Kapitel 1 – Zigarrenduft

Li CiWen, Yinge, Mai 2005

Major Li CiWen stand auf dem Balkon seiner Ferienwohnung und schaute über die Yinge-Bucht. Unter ihm lärmten die Zikaden. Die Luft war mit Feuchtigkeit gesättigt. Obwohl erst Mai, war es für die Insel erstaunlich heiß. Er schob seinen braunen Ledersessel an die Brüstung und setzte sich hinein. In der Wohnung dudelte ein Radio. Seine Frau verstaute energisch ihre Sachen in den Schränken. Es war das erste Mal, dass sie hier Urlaub machten, und es fehlte an allem. Die nächsten Tage würden sie viel einkaufen müssen. Sie werden endgültig hierherziehen, wenn er aus dem aktiven Dienst entlassen wird, dachte er.

Er zog das Beistellschränkchen aus Teak heran und goss sich Eistee in ein Glas. Schränkchen und Sessel verströmten den vertrauten Geruch nach Tabak, Holz und Leder, den er aus der Wohnung seines Großvaters kannte. Gleich würde die Sonne untergehen. Trotz des Dunstes über der Bucht, war es jedes Mal ein schönes, wenn auch kurzes Schauspiel, das er sich um keinen Preis entgehen lassen wollte. Ja, die Sonnenuntergänge an der Ostsee waren auch schön. Besonders sein letzter auf Hiddensee, am Abend der Hochzeit. Aber die Tropen sind nun mal einzigartig. Bei dem Gedanken an Hiddensee dachte er wieder daran, was das Leben für eigenartige Pfade einschlagen kann. Schon merkwürdig, wie sich in letzter Zeit alles entwickelt hat. Es war nur ein Jahr her und doch kam es ihm unendlich viel länger vor.

Die Sonne berührte schon fast den Horizont und tauchte alles, selbst den Dschungel unter ihm, in einen goldenen Ton. Er sollte die Feldkamera reaktivieren, dachte er. Neuerdings gab es in China wieder Platten und Planfilme für diese alten Ungetüme. Er war nicht mehr auf die teuren Importe aus Deutschland angewiesen. Und für eine Dunkelkammer bot die Ferienwohnung ausreichend Platz. Seine Wohnung in Xiamen war, jetzt, wo wieder zwei Menschen in ihr lebten, viel zu klein geworden. Nüchtern betrachtet brauchte er dort keine Dunkelkammer mehr, denn das Fotolabor der Dienststelle war erst letztes Jahr mit allem Schnickschnack ausgestattet worden. Das war das erste Mal, dass er auf der neuen Arbeit seine Deutschkenntnisse benötigte. Fast alle Geräte kamen aus Deutschland – mit deutschen Handbüchern.

In Qingdao nannte man ihn Gede. Das gefiel ihm. Li liebte die deutsche Sprache. Er mochte das Konzept der Grammatik und ihre Möglichkeiten. Auf Deutsch konnte man nach Belieben, aus Spaß, in einem Satz Sachverhalte kompliziert oder auch einfach ausdrücken. Mit dieser Sprache ließ sich wunderbar spielen. Im Verhältnis zum Chinesischen war Deutsch effizient, aber dennoch nicht so einengend wie das Englische. Bei seinem Großvater Li Li hatte er seine ersten Deutschstunden genossen. Und von Anfang an war er fasziniert. Er lernte die Regeln auswendig, die ihm manchmal geheimnisvoll absurd vorkamen. Deutsch hatte einen männlichen Mond, eine weibliche Sonne und ein sächliches Meer. Kein chinesischer Dichter konnte sich so etwas ausdenken. Der Großvater hatte die nötige Autorität, um die Eltern zu überzeugen, ihn auf die deutsche Schule in Qingdao zu schicken. Li CiWen lernte nicht mehr nur Deutsch, er wurde in Deutsch mariniert. Ein Aufsatzthema in der Mittelschule lautete, „Interpretation von Lessings Ringparabel vor dem Hintergrund eines konfuzianischen Weltbildes“. Er hatte alle deutschen Klassiker gelesen, liebte Böll, Kafka, Brecht und Heine. Erschien ein Roman von Christa Wolf, ließ er sich den von einem Freund in der Berliner Botschaft schon am nächsten Tag per Diplomatenpost zusenden. Jeder, der etwas von ihm wollte, versuchte, Lis Obsession zu nutzen, und schenkte ihm irgendetwas Deutsches. In der Wohnung in Qingdao stapelten sich Kuckucksuhren, Bierkrüge, Steifftiere und Überraschungseier. Meistens bekam er Bücher geschenkt. Am liebsten hätte er Germanistik studiert. In Heidelberg etwa oder in Berlin. Doch Großvater hatte anderes mit ihm vor. Also studierte er Jura in Beijing und schlug, ganz nach dem Familienwillen, eine Beamtenlaufbahn ein, die ihn schließlich zum Chefermittler für organisierte Kriminalität in Qingdao machte.

Li CiWen zuckte zusammen. Er musste eingenickt sein. Die Sonne war hinter dem Horizont verschwunden und mit ihr ging der Lärm des Dschungels. Auf dem Wasser leuchteten die Köderlampen der Dschunken. Ein unendlich friedlicher Anblick, der ihn mit der ganzen Welt versöhnte. Sein Handy vibrierte leise auf dem Schränkchen.
„Wei“, nahm Li CiWen das Gespräch an.
„Hallo Li CiWen? Melanie Veit hier. Wir haben uns lange nicht gesehen. Immer noch in den Flitterwochen?“
„Ja, ich bin es, Gede.“
Melanie sprach weiter: „Ich will nicht lange um den heißen Brei herumreden. Also, um es kurz zu machen, wir haben hier wieder ein chinesisches Problem. Ein gemeinsamer Freund hat mir erzählt, dass Sie uns wahrscheinlich helfen möchten. Ich hatte mich erst etwas gesträubt, aber es sieht so aus, als wenn wir Ihre Hilfe wirklich brauchen.“

Hainan
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