Hans Hinrichs, Rostock, Tsingtau, 1898
Er konnte es kaum glauben. Eben noch in der mecklenburgischen Provinz und nun steht er mit seiner Frau Lisa auf der Gangway ihres liebgewonnenen Schoners. Sie schauten auf eine neue Heimat, die fremdartiger nicht sein könnte. Die Farben sind anders, die Geräusche haben nichts Vertrautes und die Gerüche erst. Verwest da was oder wo kam dieser Gestank her, fragte sich Hans. Noch nie hatte er so etwas gerochen. Es war heiß, bestimmt 40 °C und dabei ist es erst Juni. Es war so schwül, dass ihm der Schweiß herunterlief, ohne dass er sich bewegte. Ein weicher Dunst lag über dem Flecken namens Tsingtau. Angesichts der prallen Fremdartigkeit kamen ihm wiederholt Zweifel, ob das eine gute Idee war, Auswandern von Rostock nach Kiautschou.
Dabei hatte er nie eine echte Chance, dieses Schicksal abzuwenden. Das Unternehmen seines Vaters wurde im Gründerkrach ordentlich durchgeschüttelt. Es gelang ihm zwar, die Firma eine Weile am Leben zu halten, aber mit dem Tod des Vaters brach auch die Stütze der befreundeten Lieferanten und Gönner weg. Der Notar verkündete ihm dann das, was er schon eine Weile geahnt hatte. Die Hinrichs waren hoffnungslos überschuldet. Ein ehemaliger Lieferant und guter Freund seines Vaters, Paul Evert, nahm ihn in seiner Weingroßhandlung in Anstellung und gab seiner Frau und ihm Logis. Das Haus, der Laden und alle entbehrliche Habe waren verkauft … und doch reichte es nicht. Er würde bis an das Ende seines Lebens für die Schulden arbeiten müssen.
Er dachte zurück. Hans beförderte gerade eine neue Lieferung Wein in die oberste Speicheretage, als ihn Paul Evert aus dem Kontor rief. Er konnte unmöglich den Flaschenzug wieder ablassen und zum Zurückrufen fehlte ihm schlicht die Puste. Paul würde sich aufregen, aber diese Arbeit ließ sich nicht unterbrechen. Im Laden seines Vaters musste er nie körperlich arbeiten. Vaters Pläne sahen ein Studium nach der Kaufmannslehre für ihn vor. Ein paar Semester hatte er studiert, doch dann ging das Geld aus. Er wollte nicht lamentieren, die körperliche Arbeit tat ihm gut und hielt ihn vom Grübeln ab. Paul rief schon wieder. Gleich schickt er einen Lehrling, dachte Hans. Der alte Evert konnte es nicht leiden, wenn das Räderwerk seiner Firma durch überflüssige Botengänge gestört wurde. Das wird beim Essen wieder Thema und Hans’ Frau wird ihn dabei vorwurfsvoll anschauen. Eine Minute noch, dann ist die Stiege oben, drei weitere, bis er selbst oben ankommt, um sie ins Regal zu fieren und noch mal vier Minuten, um zum Kontor zu rennen. Verzweiflung machte sich breit.
Es kam kein Lehrling. Zwei Männer, denen man auf einhundert Metern ansah, dass sie Beamte sind, erschienen im Speicher. Einer von ihnen trug einen auffälligen Spazierstock mit einem feinen, silbernen Drachenkopf als Knauf. Oh je, dachte Hans, sind wieder neue Schulden aufgetaucht? Kurz zog er in Erwägung, sich unter den Flaschenzug zu stellen und das Seil zu lösen.
„Herr Hans Hinrichs, sind Sie das?“, fragte einer der Beamten.
„Ja“, antwortete er. „Aber was auch immer Sie für mich haben, ich muss erst diesen sündhaft teuren Wein ins Regal bringen, andernfalls fällt die Stiege vielleicht in den Schacht und verletzt noch jemanden.“
Verunsichert schauten die beiden nach oben zu der in zehn Meter Höhe pendelnden Stiege und traten erschrocken in die Durchfahrt zurück.
„Sie können mir trotzdem erzählen, um was es geht. Ich bin Kummer gewohnt. Hat sich ein weiterer Lieferant bei Ihnen gemeldet?“
„Nein, nein, keine Sorge. Wir sind nicht hier, um Ihnen weitere Sorgen zu bereiten. Im Gegenteil, wir haben ein Angebot für Sie, das alle Ihre Probleme auf einen Schlag lösen könnte.“
„Kommen Sie mit nach oben und erzählen Sie um Gottes willen weiter“, antwortete Hans.
„Wir sind vom Reichsmarineamt …“, fing der eine Beamte an.
Ich ahne es, dachte Hans. „Ich bin nicht wehrtauglich“, antwortete er laut.
Der Beamte grinste ihn an. „Das wissen wir. Es geht auch nicht um ihren Eintritt in die kaiserliche Marine … obwohl …“, der Beamte grinste noch breiter, „wie Sie sicher wissen, hat kürzlich Admiral von Diederichs, nach dem feigen Anschlag der Chinesen auf unser Leben und unsere Werte, die Bucht von Kiautschou besetzt3. Der Kaiser wird dort eine deutsche Muster-Kolonie errichten. Unsere Marine kann zwar vieles, aber wie das so ist, ein paar Zivilisten brauchen wir auch. Besonders dann, wenn sie jung sind und eine gute Ausbildung genossen haben.“
Und wenn sie verzweifelt genug sind, um nach jedem Strohhalm zu greifen, fügte Hans in Gedanken hinzu. Er fierte die Stiege in den nächst freien Regalplatz und setzte den Mosel-Wein unsanfter als gewollt ab.
„Sie meinen, ich soll meine Schulden im Dienst des Kaisers abarbeiten?“
„Im Prinzip ja, aber es ist viel besser, als Sie denken“, sprach der Beamte. „Ihnen werden alle Schulden sofort erlassen, nachdem Sie sich für einen Zehnjahres-Contract verpflichtet haben. Alles, was Sie in den Kolonien verdienen, bleibt Ihres. Sie haben die Chance, noch einmal ganz von vorne anzufangen. Selbstverständlich können Sie Ihre Frau mitnehmen, bekommen eine Wohnung auf Kosten des Reiches und werden eine wichtige Position bekleiden. Denken Sie nach, Mann! Sie sind nicht nur Ihre Schulden los, sondern machen einen Karrieresprung, der hier im Mutterland unmöglich ist. Na ja und ein Abenteuer ist es auch. Was wollen Sie mehr?“
Hans‘ Herz klopfte bis zum Hals. Gemeinsam gingen sie die Treppen wieder hinunter und nach vorn zum Kontor. „Haben Sie dem Herrn Evert schon was erzählt?“, fragte Hans.
„Nein, noch nicht. Das können Sie machen, wenn Sie sich entschieden haben. Allerdings kann ich Ihnen nicht viel Zeit geben. Der Dreimastschoner Otto Artel, der sie beide nach China bringen soll, liegt bereits unten im Hafen. Wenn Sie wollen, können Sie sich das Schiff in der Mittagspause anschauen. Es geht noch kurz in die Werft und wird in ca. vier Wochen auslaufen. Ihre Antwort hätte der Kaiser gerne bis übermorgen. Hier sind die Unterlagen und ihr Contract. Bitte melden Sie sich bis spätestens übermorgen drüben in der Admiralität bei mir. Dito, wenn Sie Fragen haben.“ Wobei er über die Warnow zeigte. Er übergab Hans ein dickes Paket Unterlagen. Der zweite Beamte, der mit dem Gehstock, hatte die Zeit über geschwiegen. Beide grüßten ins Kontor, von dem Paul und der Lehrling sie drei aufmerksam beobachteten und liefen die Lagerstraße zum Anleger hinab.
Er sah den Beamten nach und wusste, schon bevor sie aus seinem Blickfeld verschwanden, dass er das Angebot annehmen würde. Es war völlig richtig, hier in Deutschland, zumal im beschaulichen Rostock, konnte er seinen Gordischen Knoten nicht zerhacken. Es graute ihm davor, seiner Frau die Sache zu erklären. Sie hatte mit ihm wirklich Pech. Noch vor einem Jahr dachte sie, eine gute Partie zu machen und dann die Pleite. Nun lebte sie mit ihm in einem kleinen Zimmer neben dem Kontor der Weingroßhandlung in der Lagerstraße 10. Er konnte sich lebhaft vorstellen, wie sich ihre Eltern über ihn das Maul zerrissen. Er merkte dies jedes Mal, wenn sie von einem Besuch bei ihnen drüben, in Gehlsdorf, zurückkam. Nun hatte die altehrwürdige Apothekerdynastie einen Habenichts in der Familie – was für ein Unglück! Aber sie machten auch nicht den kleinsten Versuch, ihm in dieser Misslage zu helfen. War ja sein Problem und nicht das der Tochter. Da nützte selbst der Hinweis nichts, dass er ebenfalls ohne eigenes Zutun in den Schlamassel gerutscht war. Nun ja, man konnte sich die Verwandten nur bedingt aussuchen. Lisa war aus anderem Holz als ihre Eltern. Sie unterstützte ihn nicht nur mit dem Geld, das ihre Eltern ihr mit der strengen Auflage, „das ist für dich – und nicht für deinen Mann“, regelmäßig gaben, sondern war auch sonst eine große Stütze. Sie stand immer hinter ihm. Egal wie dick es gerade kam. Der alte Evert fasste das auf seine Art zusammen. „Die ist viel zu gut für dich“. Stimmt, dachte Hans, und jetzt würde er sie nach China entführen. Weg von den Eltern und deren finanzieller Sicherheit, weg von den noch verbliebenen Freunden und hinein in eine gänzlich unbekannte und wahrscheinlich auch gefährliche Welt. Das erste Mal dachte er darüber nach, ihr die Scheidung anzubieten. Wenn die Umstände seiner Auswanderung bekannt würden, wäre ihre Ehre wiederhergestellt. Ihre Familie hätte sowieso etliche Nachfolger für ihn zur Hand. Zumindest behaupteten sie das ständig. Doch Hans liebte Lisa und Lisa liebte Hans. Das machte alles unendlich kompliziert. Er würde erst mit Paul Evert sprechen. Doch vorher wollte er runter zum Hafen, um sich den Schoner anzuschauen. Vielleicht packte ihn ja das Fernweh und beflügelte seinen Entschluss.
„Dies ist ihre Kabine“, begrüßte ihn der Erste Offizier. „Wie Sie sehen, haben wir den Werftaufenthalt auch genutzt, um ein bisschen Komfort herbeizuzaubern. Ihrer Frau und Ihnen wird es an nichts fehlen. Glauben Sie mir, auf einem der modernen Dampfer hätten Sie auch nicht mehr Platz.“ Hans schaute sich um. Vor drei Wochen, nachdem ihn Schmidt und Meyerfeld besuchten, hatte er das erste Mal den Dreimaster gesehen. Da hatte er noch Zweifel. Gemessen an den Auswandererschiffen, war der Schoner winzig.
„Der Herr Meyerfeld hat die Kabine neben Ihnen bezogen“, sagte der Erste Offizier.
Meyerfeld war zwar ein sympathischer, aber dennoch undurchsichtiger Typ. Bei ihrem ersten Treffen in der Weingroßhandlung hatte nur Schmidt gesprochen. Meyerfeld lächelte die ganze Zeit und sagte nichts. Bei den späteren Treffen mit Schmidt in der Admiralität war Meyerfeld öfter anwesend – und schwieg auch da meist. Deshalb fragte er Schmidt, was Meyerfeld denn mache. Die Antwort war überraschend: „Wenn ich Ihnen einen Rat geben darf, tragen Sie Ihr Herz nicht auf der Zunge, wenn Meyerfeld in der Nähe ist. Ich kenne seine Aufgaben ebenso wenig wie Sie, weiß aber, dass er Tirpitz persönlich unterstellt ist.“
Der Erste Offizier riss ihn aus den Gedanken: „Ich habe hier noch eine Liste von Sachen, die mit auf die Reise sollen. Bitte organisieren Sie die Lieferung. Unser Purser hat im Moment so viel um die Ohren, dass er für jede Hilfe dankbar ist. Er wird Ihnen die nötigen Vollmachten und Wechsel aushändigen. Übrigens sollen wir auch ein bisschen Wein für den Gouverneur mitnehmen, der Paul Evert wird’s Ihnen danken, wenn Sie an ihn denken. Der Schiffsarzt möchte ebenfalls, dass Sie und auch Ihre Frau bei ihm demnächst vorstellig werden. Am besten, Sie machen das gleich als Erstes.“
Der Besuch beim Arzt war reine Formsache. Schon kurz nach der Entscheidung hatten sich seine Frau und er bei ihrem langjährigen Hausarzt, einem guten Freund von Lisas Eltern, vorgestellt. Der malte ein Bild in den düstersten Farben. Ungeziefer, Krankheiten, Eingeborene, Klima … würden seiner Meinung nach für ein schnelles Ende sorgen. Lisa antwortete ihm, dass sie unter dem persönlichen Schutz des Kaisers und von Tirpitz reisen würden, was könnte da schon passieren? Obwohl scherzhaft gemeint, ließ der Arzt von seiner Tirade ab und untersuchte die beiden, gab ihnen vorbeugende Medikamente gegen allen möglichen Krankheiten und schrieb in ein Heft, wie sie mit anderen Substanzen zusammen wirkten, was man beachten solle, wie viel man jeweils nehmen sollte …
Der Schiffsarzt des Schoners war anders gestrickt. Als Hans ihm erzählte, dass der Hausarzt sie bereits für tot erklärte, konnte er vor Lachen kaum an sich halten.
„Das Leben ist gefährlich, mein Lieber, aber ohne Gefahr ist’s kein Leben! Im Ernst, der Kollege hat Ihnen die richtige Apotheke besorgt. Sie sind dennoch jederzeit in meinem Reich willkommen, nicht nur wenn’s mal irgendwo klemmt. Sonst natürlich auch. Außerdem seh ich jedem an der Nasenspitze an, wenn es ein Problem gibt und so groß ist das Schiff ja nicht, dass sie mir dauerhaft aus dem Weg gehen könnten. Ich habe gehört, dass der Purser Sie zum Einkaufen vergattert hat? Sehr schön, sehr schön“, redete der Doktor ohne Pause weiter. „Ich habe auch noch was für Sie. In der Ratsapotheke am neuen Markt liegt eine größere Menge des kostbaren Schmerzmittels Erythroxylin für uns bereit. Übrigens, vom bekannten Rostocker Kind Friedrich Gädcke entdeckt. Ich will die Überfahrt nutzen, um den Stoff weiter zu erforschen. Er wird uns in unseren Kolonien sehr dienlich sein …“
Wenn Hans nicht demonstrativ zur Tür gegangen wäre, hätte der Arzt noch mindestens eine weitere Stunde von allem Möglichen schwadroniert. Lisa wird sich freuen. Da hat sie jemanden, um die langweiligen Tage auf See mit endlosen Gesprächen über Gott und die Welt zu verkürzen. Hans gehörte zu Lisas Leidwesen zur norddeutsch-schweigsamen Spezies.
Nun stand er hier in der Kiautschou-Bucht und blickte auf einen wuseligen Marktflecken, auf dem an jeder Ecke, bis hin zum Gebirgsrand gebaut wurde. Zwischen den Menschen, die sich am Kai drängten, stachen immer wieder die weißen Uniformen der deutschen Marine hervor. Lisa ging ihm voraus die Gangway hinunter. Meyerfeld musste schon früher von Bord gegangen sein, denn er stand unten umringt von Offizieren und winkte ihnen zu. Offensichtlich wartete er auf sie. Hoffentlich hatte er die Wohnungsfrage für die Hinrichs schon gelöst. Fast 5 Monate hatte die Überfahrt gedauert – und fast genauso lang war Lisa nun schwanger. Mittlerweile ließ sich das nicht mehr verbergen. Sie wollten unbedingt runter vom Schiff. In Singapur hatte sie die Nachricht erreicht, dass in der Region Typhus ausgebrochen sei. Weniger Menschen auf engem Raum schien ihnen dringend geboten. Meyerfeld hatte ihnen mitgeteilt, dass er sich angesichts der neuen Umstände Lisas umgehend persönlich beim Gouverneur für sie verwenden wolle.
„Die erste Wohnung, die fertig wird, wird ihre werden“, eröffnete er dem Paar noch in Singapur.
Hans staunte immer wieder über Meyerfelds Verbindungen. In Rostock spazierte er ungehindert in der Admiralität herum, auf der Otto Artel machte er es sich auf der Brücke bequem, in Singapur empfing ihn der deutsche Konsul persönlich und jetzt schien er auch mit Rosendahl6 bekannt zu sein. Ihnen konnte es nur recht sein. Auf dem Schiff hatte er sich mit Meyerfeld ein wenig angefreundet. Obwohl, angefreundet nicht das richtige Wort war. Meyerfeld verfügte über die Gabe, eine Gesellschaft charmant einen Abend lang zu unterhalten, ohne dabei auch nur ein winziges Detail seiner Persönlichkeit preiszugeben. Er konnte ausgezeichnet zuhören und hatte zu vielen Themen eine Meinung, doch Hans war sich nie sicher, ob dies auch wirklich die Meinung des Klaus‘ Meyerfeld war.
„Lisa, Hans“, rief er sie zu sich. „Diese Herren sind die Adjutanten des Gouverneurs. Sie werden Sie jetzt zu ihrem neuen Quartier bringen und Sie in alles Nötige einweisen. Um das Gepäck brauchen Sie sich nicht weiter zu kümmern, das wird erledigt. Ich bin leider ein wenig in Eile und muss mich nun verabschieden. Bei Fragen wenden Sie sich gerne an diese Herren hier. Wir sehen uns sicher demnächst mal wieder. Bis dahin, au revoir oder besser zai jian, wie man hier sagt.“ Er umarmte Lisa, gab Hans die Hand und verschwand in der Menschenmenge. Verdutzt sahen sich die Eheleute an. Meyerfeld war kein Freund von langen Abschieden.