Kapitel 9 – Sinologie

Melanie Veit, Hiddensee, 4. Februar 2004

„Woher wissen Sie so viel über China?“, fragte Melanie Charlotte.
„Ich hatte keine Lust zu arbeiten, und da habe ich mir ein Orchideenfach zum Studieren gesucht. Sinologie kam da gerade recht,“ antwortete Charlotte bierernst.
Auch wenn sie es vielleicht nicht wollte, Melanie musste lachen. Ihr gefiel die Frau.
„Wie man das erwarten konnte, arbeite ich nun als Insel-Sklave im Familienbetrieb. Ich hätte auch taxifahren können, wie der Rest meiner ehemaligen Kommilitonen, aber auf Hiddensee ist das schwierig“, fuhr sie mit einem Grinsen fort.

„Okay, ernsthaft jetzt, ich helfe zwar meiner Mutter im Pensionsbetrieb, aber meine Brötchen verdiene ich als Lektorin und Übersetzerin eines Dresdner Verlages, der sich auf chinesische Themen spezialisiert hat. Die Pension hat einige Angestellte und ich bräuchte eigentlich gar nicht die Rezeptionistin oder Kellnerin zu spielen. Ich mache das gern. Das ist mein Ausgleich zu der Routine mit meinen Büchern. Und eh Sie weiterfragen, ja, ich habe noch ein Zimmer in Dresden. Daher auch der Wohnsitz Dresden in meinem Personalausweis und vermutlich auch in ihrer allwissenden Polizeidatenbank.“
„Ich wünschte, die wäre wirklich allwissend,“ bemerkte Melanie und fragte weiter, „können Sie mir sagen, wann Frau Thomas zurückgekommen ist?“


„Ja, dreiviertel elf abends. Ich musste etwas aus dem Büro hinter der Rezeption holen. Da kam sie gerade rein. Wir grüßten uns, und sie ging nach oben aufs Zimmer. Ihren Mann habe ich nicht gesehen. Ich dachte, der steht draußen und raucht noch eine. Dann bin ich wieder in den Gastraum. Gestern ging’s hier hoch her. Wir hatten eine Trauerfeier. Das Hiddenseer und der Sanddornschnaps flossen in Strömen. Die Party war so um eins zu Ende und ich bin dann gleich in mein Häuschen hinten.“ Melanie hatte das kleine Hexenhaus im Garten der Pension gesehen und sich zugleich gefragt, ob es auch im Winter vermietet würde. In ihrer Hiddenseezeit waren die Fremdenzimmer niemals beheizt, noch waren sie großartig eingerichtet und das Klo war immer irgendwo über dem Hof. Wer damals im Winter nach Hiddensee wollte, der musste hart im Nehmen sein. Heute hatte selbst der kleinste Pavillon Doppelfenster, Zentralheizung und natürlich Dusche&WC. Sie wusste nicht, ob sie das bedauern sollte. In der Rückschau sah man manche Umstände gnädiger, in einem weicheren und wärmeren Licht. Die Flüche seinerzeit, wenn man beim Abstieg von der Dachkammer die Treppe herunterfiel, um das Klo auf dem Hof bei frühlingshaften Minus drei Grad rechtzeitig zu erreichen, hatte man erfolgreich verdrängt.

Andere mochten in diesen Erinnerungen schwelgen, Melanie konnte das nicht. Alles, was irgendwie mit der DDR zusammenhing, war für sie mit Mehltau überzogen. In der Zeit von Ausreiseantrag bis zur Ausreise sollte sie in einer stockkonservativen, kirchlichen Einrichtung in der brandenburgischen Pampa eine Diakonissen-Ausbildung machen. Der Befreiungsschlag kam rechtzeitig und sie zog in die verrückteste Stadt der Welt, nach West-Berlin. Sie konnte ihr Abitur nachmachen. In der DDR war ihr das verwehrt. Dann studierte sie, und nach ein bisschen Germanistik, etwas Politik und natürlich Publizistik, gefiel ihr wider Erwarten Jura am besten. Sie brachte es, entgegen den eigenen Erwartungen und denen ihrer Familie sowieso, mit dem zweiten Staatsexamen zu Ende. Die juristische Praxis in einer Anwaltssozietät ernüchterte sie schnell. Sie wollte nicht werden wie die, wollte nicht Kollegen mit C schreiben müssen. In dieser Zeit lernte sie so viel Oberflächlichkeit, Standesdünkel und Dummheit einer Klasse kennen, dass sie schon fast Sehnsucht nach den DDR-Bonzen bekam. Sie konnte sich diesem Zoo nicht anpassen. Folglich nannte man sie hinter vorgehaltener Hand nur noch die Ostzicke. Eine Anwaltsgehilfin, die einzige Vertraute in der Kanzlei, gab ihr den Tipp, mal bei der Polizei vorzusprechen. Sie hatte eine Anzeige aus der BZ dabei. Und so nahm die Polizeikarriere ihren Lauf.

„Hallo?“, fragte Charlotte.
Melanie kehrte in die Gegenwart zurück: „Oh, Entschuldigung, ich musste gerade an was denken. Sie sagten, dass Ihre Mutter die Pension führt. Kann ich die mal sprechen?“
„Maren ist in Rostock. Besorgungen machen und Oma besuchen. Eigentlich wollte sie schon zurück sein, aber da die Fähre heute und wahrscheinlich auch morgen nicht fährt, wird sie noch etwas in der Hansestadt bleiben. Sie hat also ein astreines Alibi im Gegensatz zu mir“, witzelte Charlotte.
„Wieso meinen Sie, dass Sie eins brauchen?“, interessierte sich Melanie.
„Na ja, Kripo und so, da macht man sich seine Gedanken. An den besoffenen Angler glaube ich jetzt nicht mehr. Als Lektorin lese ich allerhand Krimis, wissen Sie. Und ich würde sofort um eine Woche freie Kost und Logis hier in der Pension wetten, dass eine dritte Hand im Spiele ist.“
„Bei Selbstmord würden wir auch ermitteln“, versetzte Melanie, „da reichen zwei oder sogar nur eine Hand völlig aus.“


„Mag schon sein, aber der Thomas hat im Leben nicht Selbstmord begangen. Da war der gar nicht der Typ für. Das war so ein Hyperaktiver, der ständig telefonierte, etwas in sein Notizbuch schrieb oder sonst irgendwie unter Strom stand. Den hat einer umgebracht. Glauben Sie mir.“
Melanie horchte auf: „Was meinen Sie mit Notizbuch?“
„Ah, Sie haben keins bei ihm gefunden!“, mutmaßte Charlotte. „Das war so ein hippes A6-Büchlein, kartonfarben, Spiralbinder und mit einem schwarzen Gummi. Sie wissen schon.“
„Sie meinen ein Moleskin?“, fragte Melanie.
„Nein, exklusiver, schicker. Aus Japan wahrscheinlich. Es klebte noch ein japanischer Zettel aus dem Laden drauf. Ich habe so genau hingeschaut, weil ich einen Notizbuchfetisch habe. Ich wollte ihn irgendwann fragen, wo er das gekauft hatte“, antwortete Charlotte.
„Wir haben tatsächlich kein Notizbuch bei ihm gefunden. Das war ein wertvoller Hinweis. Danke! Bitte tun Sie mir einen Gefallen und schauen Sie sich hier ein wenig danach um. Vielleicht hat er es ja im Foyer oder im näheren Umkreis des Hotels verlegt. Ich werde die Witwe gleich noch mal danach fragen. Außerdem müssen meine Kollegen, das Personal und die Gäste über den Abend befragen. Ich hoffe, Sie haben eine Gästeliste?“

Auch Frau Thomas hatte das Notizbuch nicht. Melanie verabschiedete sich von Charlotte und ging ins Godewind. Sie musste sich kurz auszuruhen und einen Happen essen. Das Haus hatte eine Sauna. Sie hoffte, dass sie die heute Abend genießen konnte. Aber vorher standen noch ein paar Posten auf der Liste, die dringend abzuarbeiten waren.

Papa konnte offensichtlich Englisch, denn er hatte bereits ein ganzes Dossier zu Reginald Thomas zusammengestellt. Den Chinesen hatten sie nicht aufgetrieben. Das war merkwürdig, denn die Insel war wegen der ausgefallenen Fähren abgeriegelt. Was nicht hieß, dass man nicht auch mit einem privaten Boot hin- und herfahren konnte. Doch das ließ sich schwer verheimlichen. Wahrscheinlich hätte jemand etwas bemerkt. Es sei denn, man legte es wirklich drauf an, unbemerkt von der Insel zu verschwinden. Dann hatten sie kaum eine Chance. Melanie blieb nichts weiter übrig, als eine bundesweite Fahndung nach dem Chinesen auszugeben. Charlottes Zeichnung war sehr präzise und somit war die Wahrscheinlichkeit hoch, dass er ihnen an einem Flughafen, Bahnhof oder wo auch immer, in das Netz lief. Bade hatte im Onkel Hendrick die Leute befragt und mühte sich gerade mit dem Protokoll ab. Melanie plante, am Abend noch einmal in die Kneipe zu gehen. Nicht inkognito, denn wie sie die Insulaner kannte, wussten die jetzt schon alles über sie. Wahrscheinlich kannten sie sogar ihr erstes Grundschulzeugnis inklusive der Beurteilung ihrer Lehrerin. Ohne dem Polizeimeisteranwärter Bade zu nahezutreten, wollte sie sich ein eigenes Bild von einer Kneipe mit einem so merkwürdigen Namen machen.

Papa hatte in der Tat interessante Neuigkeiten bei seiner online Recherche auf der anderen Insel erfahren.
„Also“, fing Papa an, „das Ehepaar Thomas stammt ursprünglich aus Hong Kong. Sie sind dort beide 1960 geboren und auch dort aufgewachsen. Das Ehepaar ist kinderlos. Ein Jahr nach der Rückgabe der Kolonie an die Chinesen sind sie 1998 nach Staplehurst in Kent gezogen.“

Advanced Landing Ground, Staplehurst (Kent)

„Drood war‘s!“, sagte Melanie lakonisch.
„Wie jetzt?“, fragten Treder und Bade gleichzeitig. Auf Papas Gesichts, eben noch verdutzt, breitete sich die Erkenntnis aus. Er musste grinsen.
„Staplehurst, 9. Juni 1865, Charles Dickens, Drood“, sagte Papa.
Sieh an, unser Bildungsbürger-DDR-Grieche und vermutlich Kreuzworträtselfan, dachte Melanie. „Okay, war Quatsch“, sagte Melanie laut, „könnt ihr im Internet nachlesen. Mach mal weiter, Papa.“
„Okay“, fuhr der gut gelaunt fort, „die Thomas gelten als vermögend und führen ein Rentierdasein. Das Paar sammelt chinesische Preziosen. Reginald Thomas hat gelegentlich Gutachten zu Sammlerstücken abgegeben. Unter anderem für alle großen Auktionshäuser wie Sothebys, Christies, Barnebys, Bonhams und so weiter. Alles illustre Namen in dem Geschäft. Er galt als ausgemachter Experte auf diesem Gebiet. Das war die bright side des Thomas Paars. Die Kent Police hat auch eine dark side für uns. Sowohl Interpol, das Yard als auch Kent haben die Thomas‘ schon seit Jahren auf ihrem Zettel. Zuerst wegen Hehlerei und Schmuggel. Aber seit einiger Zeit sind sie sich sicher, und jetzt haltet euch mal alle bei den Händen, dass die beiden etwas mit der Wo-Hop-To-Triade zu tun haben. Das ist neben der Sun-Yee-On eine der größten der alten Triaden. Beide sind verbündet und haben zusammen mal so 100.000 Mitglieder.“

Apple Trees Staplehurst (Kent)

„Ach du Scheiße!“, entfuhr es Treder.
Melanie wollte das Gleiche sagen. Bade wurde blass.
„Es geht noch weiter“, sagte Papa. „Der Kollege in Kent deutete an, dass es gerade enorme Aktivitäten in den Zentren der Triaden gegeben hat. Also auch in London. Daher haben sie Reginald Thomas verstärkt überwacht. Dann ist er vom Radar verschwunden. Tja … und hier aufgetaucht. Tot allerdings. Der Kollege konnte oder wollte mir nicht alles sagen. Er sagte nur, dass da innerhalb der britischen Polizei an einem ganz dicken Rad gedreht würde. Und wenn die mit ihrer Nabelschau und der Revierpinkelei fertig sind, werden wir wohl mehr Informationen bekommen.“

Small English hop house, Staplehurst

„Krass!“, sagte Melanie. „Heute Morgen dachte ich noch an eine Eifersuchtstat und nun stecken wir vielleicht in einem Triadenkrieg … auf Hiddensee … Kann man sich gar nicht ausdenken, sowas. Wie heißt der Kollege in Kent, ich will den auch nochmal sprechen.“
Papa räusperte sich: „Nun, er … heißt Marie-Ann Chittenden. Er, also ich meine, sie. Sie ist Detective Inspector in Maidstone.“
Melanie lachte: „Was täten wir ohne das generische Maskulinum. Die Welt hätte ein paar Geheimnisse weniger.“ Das war heute schon das zweite Mal, dass sie Papa rot werden sah.

Singer on Butter market Canterbury

„Okay!“, sagte Melanie. „Lasst uns die Situation zusammenzufassen und wieder ein wenig runterkommen. Unser Opfer hat, wie sich nun herausstellt, keine ganz so reine Weste. Unser Hauptverdächtiger ist ein Chinese, der vielleicht, aber nur vielleicht, zu den Triaden gehört und im Moment abgängig ist. Unser zweiter Kandidat ist nach wie vor die Ehefrau. Die sollten wir nicht aus den Augen verlieren. Und dann kann man leider nie den unbekannten Dritten, der zufällig auftaucht und keinerlei Beziehung zum Opfer hat, ausschließen. Letzteres wäre nach meiner Meinung der Worst Case. Die Triaden sind Kriminelle, die kriminelle Sachen tun. Die bekommt man irgendwann oder auch nicht, aber sie sind berechenbar. Der dritte Mann ist eine tickende Bombe, die immer und überall hochgehen kann. Wir sollten uns von dem Mafiakram nicht kirre machen lassen. Lasst uns erst mal die ganz normale Polizeiarbeit erledigen. Panzerwagen können wir uns immer noch kommen lassen. Papa, hake bitte noch mal in Kent nach, ob es im Vorlauf irgendwelche Telefonverbindungen nach Hiddensee gab und zu wem hier. Herr Bade, was ist in der Kneipe herausgekommen?“

„Ja, also ich habe den Wirt im Hendrick befragt. Er kannte die zwei Gäste, die mit den Engländern am Tisch saßen, nicht. Sind keine Insulaner. Seiner Meinung nach waren das ganz normale Touristen. Vielleicht in Kloster untergebracht. Er ruft uns an, wenn sie in seine Kneipe kommen oder er sie irgendwo wiedersieht. Chinesen hat er keine gesehen. Frau Thomas ist so um viertel elf mit dem Fuhrwerk los. Die drei anderen haben dann noch eine Stunde weiter getrunken und sind circa halb zwölf gegangen. Sie waren zwar angetütert, aber nicht betrunken. Die gingen alle noch gut geradeaus. Wie der Engländer nach Vitte gekommen ist, konnte er nicht sagen. Kann gut sein, dass er sich ein Fahrrad genommen hat. Die Fuhrwerke habe ich gecheckt. Das, welches Frau Thomas genommen hat, war in der Tat das Letzte. Jetzt im Februar ist das eh überschaubar mit den Pferden. Das Fuhrwerk fuhr nur, weil das für Gäste im Godewind bestellt war. Irgend so eine Firmensache. Da hat der Kutscher natürlich alles mitgenommen, was so ging.“


„Sehr gut!“, sagte Melanie, „das ist doch schon mal was. Wir haben ein Zeitfenster von dreiundzwanzig Uhr dreißig bis ein Uhr fünfundvierzig. Was wir klären müssen ist, wie der Mann an den Strand nach Süderende kam und ob der Fundort der Tatort … ähm, sagen wir mal Sterbeort, ist. Nach Dr. Niemann hat das Gift schnell gewirkt. Ich nehme an, damit meint er was im Minutenbereich. Also wird der Tatort nicht so weit vom Sterbe- respektive Fundort entfernt sein. Die Obduktion in Rostock wird hoffentlich herausfinden, ob die Leiche transportiert wurde und wie schnell der Tod eintrat. Ich kann mir ehrlich gesagt nur schwer vorstellen, dass jemand nachts eine Leiche über die Insel karrt. Noch dazu auf dem am meisten frequentierten Weg des Eilandes überhaupt. Von der Kneipe bis zum Fundort sind es etwas mehr als drei Kilometer, also vierzig Minuten Fußweg beziehungsweise zehn Minuten mit dem Fahrrad. Das schränkt den Tatzeitraum stark ein. Wir müssen versuchen, Zeugen für diesen Zeitraum zu finden. Wenn wir den Zeitraum eingrenzen können und die Wirkzeit des Giftes kennen, verkleinert sich unser Suchradius enorm. Außerdem gibt es da noch das Notizbuch, das nach Aussage der Pensionsangestellten dem Toten gehörte. Das müssen wir finden. Der Inhalt des Buches könnte auf ein Motiv hinweisen. Den Chinesen überlassen wir vorerst dem Festland. Wir halten dennoch die Augen offen, möglicherweise ist er ja noch auf der Insel“, schloss Melanie. „Hat noch jemand irgendwas beizutragen?“, fragte sie. Alle schwiegen. „Gut, wenn das nicht der Fall ist, will ich die Aufgaben festlegen. Es ist jetzt schon dunkel, aber morgen würde ich Sie, Henry, bitten, noch mal am Strand so im Fünf-Minuten-Fußweg-Radius nach dem Notizbuch zu suchen. Ich weiß, Schnee und so, aber das Notizbuch hatte einen Spiralbinder. Mit dem Metalldetektor sollte das zu finden sein – falls es denn da ist. Wenn das erledigt ist, nehmen Sie sich bitte die Firmen-Leute im Godewind vor, die mit der Thomas in der Kutsche saßen. Du, Papa, befragst die Trauergäste, die am Abend in der Pension Hinrichs waren. Charlotte schickt eine Liste. Ich befürchte, die sind über die ganze Insel verstreut. Wenn ihr beide damit fertig seid, solltet ihr in Kloster nach den Tischnachbarn der Thomas‘ suchen und sie befragen. Treder und ich klappern die beiden möglichen Fußwege von Kloster nach Süderende ab und befragen die Anwohner. Ich weiß nicht, wer wie lange braucht, aber ich würde gerne um vierzehn Uhr eine Besprechung machen. Natürlich sollten wir uns sonst auch gegenseitig auf dem Laufenden halten. Unser größtes Problem ist die Fähre. Wenn die wieder fahren sollte, könnten uns wichtige Zeugen wegdiffundieren. Papa, organisiere bitte einen Link zur Reederei Hiddensee. Die sollen uns von sich aus – und rechtzeitig – informieren, wenn der Fährverkehr wieder aufgenommen wird. Soweit erst mal. Treder und ich gehen jetzt Abendbrot im Onkel Hendricks essen.“

Sie war jetzt fünfzehn Stunden an dem Fall dran. Der Adrenalinnachschub verebbte. Sie hatte den Tag über tapfer mit viel Kaffee dagegengehalten. Nun merkte sie, wie ihre Aufmerksamkeit allmählich nachließ. Körperlich hätte sie noch leicht weitere fünfzehn Stunden durchgehalten, doch das nützte ihr nichts. Sie musste dem Faden folgen. Dazu brauchte sie keine Muskeln, sondern einzig ihr Gehirn. Ein Teil dieses Gehirns sagte ihr, dass es insgesamt zu viel Chinesisches in diesem Fall gab. Das konnte man nicht mehr als Zufall abtun. Da ist ein mysteriöser Chinese, der plötzlich verschwindet. Dann die Thomas‘, die eigentlich aus China stammen – irgendwie … und die sich mit chinesischer Kunst befassen. Und dann noch die leicht sinophilen Hinrichs. Kann Zufall sein, aber die Wahrscheinlichkeit, dass die Dinge nicht doch anders zusammenhängen, sind auf einer Insel wie Hiddensee gering. Selbst in Stralsund oder Rostock wäre sie bei einer solchen Konstellation stutzig geworden. Sie musste bei den Hinrichs morgen ein bisschen auf den Busch klopfen.

„Cheffe, denkst Du, dass uns das BKA den Fall abnehmen wird?“, platzte Treder in ihre Gedanken.
Melanie antwortete: „Ehrlich gesagt wär das eine erfreuliche Wendung. Der Fall ist nicht so glatt. Also nicht glatt genug für eine Stralsunder Kripo. Wann haben wir schon mal mit Interpol und so zu tun? Was ich dagegen fürchte, ist, dass die uns weiter wursteln lassen und gleichzeitig irgendeinen Fatzke überordnen. Sehr wahrscheinlich hat der eine Profilneurose und macht uns damit das Leben schwer. Du weißt ja selber, wie sowas abläuft. Egal wie, ich mache mir darüber im Moment keine Gedanken. Wir haben eh keine Möglichkeit, solche Entscheidungen zu beeinflussen. Lass uns unseren Job machen, solange, bis uns jemand was Anderes aufträgt. Mit etwas Glück fangen wir den Mörder, bevor uns irgendeine Behörde Sand ins Getriebe streuen kann.“ Sie stapften weiter durch das dichte Schneetreiben Richtung Kloster.

Das Onkel Hendrick war eine typisch Hiddenseer Kneipe. Viel Kunst und Kram. Also mehr Kram und weniger Kunst. Doch bei aller Voreingenommenheit Melanies, es war warm, roch gut und war gemütlich. Der Fußweg durch die Kälte hatte sie hungrig gemacht. Melanie bestellte Hiddenseer Kochdorschfilet, gedünstet mit Dill, Senfsoße und Salzkartoffeln. Treder war mit einer Fischboulette, Remoulade und Kroketten zufrieden. Fischboulette!, dachte Melanie. Sie hatte während der DDR-Schulspeisung eine gewisse Skepsis gegenüber Lebensmitteln, denen man nicht mehr klar ihre Herkunft ansah, entwickelt. Eine Boulette würde sie nicht mal bei Jamie Oliver bestellen. Aus dem gleichen Grund aß sie keine Eier mehr. Seinerzeit wurde sie auf den Befehl einer Schulspeisungsaufsicht genötigt, ein offensichtlich faules Ei zu essen. Beinahe wollte ihr heute noch der Appetit vergehen. Sie konzentrierte sich wieder auf die Gegenwart.

Sie hatte ein bisschen im Internet zu dieser Kneipe recherchiert. Ihre Spezialitäten waren, wenn man den Kritikern auf Myspace und Geocities glauben konnte, Fischgerichte und Gemütlichkeit. Der Inhaber hatte den Ruf eines Brummbären, der regelmäßig die Integrationsversuche unbedarfter Touristen zunichtemachte. Gerade die integrationswilligen Besucher aus dem süddeutschen Raum nahmen übel und füllten die Kommentarspalten mit negativen Rezensionen. Glücklicherweise beschieden aber auch diese, dass das Essen hervorragend sei. Melanie hatten die Rezensionen amüsiert. Tja, liebe Schwaben, mit Ranwanzen erreicht ihr bei dem das genaue Gegenteil, wäret ihr mal ein bisschen zurückhaltender gewesen. „Moin!“, reicht auf Hiddensee völlig, wenn man eine Gastwirtschaft betritt. Mit mehr Wörtern machte man sich schon verdächtig. Ein Text wie, „ach schön haben Sie es hier. Sind das da echte Kapitänsbilder an der Wand … Ach so, ich hab eine XYZ-Allergie, könnten Sie mir die Zutaten erklären …“, konnte dazu führen, dass der Wirt alle Speisen für toxisch erklärte und die Gäste – im eigenen Interesse – zum Gehen drängte. Die Stoffeligkeit der Gastwirte auf Hiddensee war eine Konstante. Damals waren es die schlecht gebrieften sächsischen und thüringischen Plaudertaschen, die ihr Fett abbekamen. Heute sind Bayern, Schwaben und Hessen das Ziel der Charmeoffensiven der Hiddenseer Wirte. Warum der Wirt des Onkel Hendrick, Arnim Reesch, diesen schrägen Namen gewählt hatte, konnte sie nirgends im Internet finden.

„Wie kamen Sie auf den Namen für die Kneipe“, fragte Melanie.
Nach der Abendbrotzeit hatte sich der Gastraum merklich geleert. Der Chef hatte sich, nachdem er abgeräumt und die anderen Gäste versorgt hatte, zu ihnen gesetzt.
„Ach das war eigentlich ein Gag oder sowas Ähnliches. Ich bin bis 1990 mit der DSR zur See gefahren. Fünfundzwanzig Jahre lang. Angefangen als Lehrling. In Amsterdam waren wir mal in einem Headshop mit diesem Namen. Nur gucken natürlich.“ Er grinste und fuhr fort: „Die Treuhand hat mich dann an den elterlichen Tresen zurückgebombt. Und als ich die Kneipe nach dem Tod meiner Eltern ganz übernehmen musste, habe ich ihr den Namen gegeben, der meinen Gefühlen am ehesten entsprach. Aber das ist Schnee von gestern, ich habe längst meinen Frieden gemacht mit dem Kram“, antwortete er unerwartet leutselig. „Übrigens kennen die meisten die Bedeutung eh nicht. Belgier oder Niederländer fragen schon mal nach, aber das war’s auch schon. Ich nehme aber an, dass Sie nicht deswegen hier sind? Ich habe ihrem ABV ja schon alles gesagt. Was wollen Sie denn noch so wissen?“

Melanie sagte: „Na ja, ich hatte einerseits gehofft, dass das Paar von gestern nochmal kommt, und andererseits möchte ich etwas nachhaken, ob Sie irgendwas gesehen oder gehört haben, was uns weiterhelfen könnte. Es ist gut möglich, dass Sie noch etwas in ihrem Unterbewusstsein haben. Versuchen Sie mal, mir den Abend ganz chronologisch zu erzählen. Völlig egal, ob Sie das wichtig finden oder nicht. Einfach nur die Abfolge. Und lassen Sie sich ruhig Zeit. Alles könnte wichtig sein, auch Blicke, Handbewegungen und so weiter.

Die Befragung erwies sich als überraschend aufschlussreich. Das Paar hatte sich für einen Sammelteller an der Wand interessiert und versucht, Reesch danach auszufragen. Der wusste zu dem Teil nichts zu sagen, war aber immerhin so freundlich, es von der Wand abzunehmen und ihnen in die Hand zu geben. Obwohl auf der Vorderseite eine europäische Villa zu sehen war, war die Beschriftung auf der Rückseite Chinesisch. In dem Augenblick haben sich die Engländer, die erst an einem anderen Tisch saßen, eingeschaltet. Offensichtlich hatten die, die Touristen schon eine Weile beobachtet. Der Wirt hatte davon nichts bemerkt. Daraufhin seien sie über das Stück ins Gespräch gekommen. Reesch konnte Englisch und hatte mit halbem Ohr gehört, dass es um einen Erinnerungsteller aus einer deutschen Kolonie ging. Möglicherweise in China, aber da das Wort auch für Porzellan stand, konnte er das nicht auseinanderhalten. Schau an, dachte Melanie, schon wieder China. Selbst Treder kam diese Häufung jetzt komisch vor. Gut, es war völlig normal, dass ein Experte und Sammler chinesischer Preziosen eine solch zufällige Gelegenheit nutzen konnte, einfach, um mit anderen Gästen ins Gespräch zu kommen. Wie auch immer, unter diesen Chinaumständen musste sie die Witwe ein weiteres Mal interviewen. Möglicherweise hing das doch mit dem Fall zusammen. Dieses Ehepaar wurde jetzt noch wichtiger, als es ohnehin schon war. Melanie machte mit ihrer kleinen Kompaktkamera eine Aufnahme vom Teller. Sie warteten noch bis zweiundzwanzig Uhr in der Kneipe, doch das Paar tauchte nicht mehr auf. Melanie fühlte sich müde und träge, als sie die Kneipe verließ. Die Aussicht, nun drei Kilometer auf einer dunklen Straße zurücklaufen zu müssen, nervte sie unendlich. So könnte sich auch Reginald Thomas gefühlt haben, als er gestern die Kneipe verließ. Gut möglich, dass er sich eines der nicht angeschlossenen Fahrräder ausgeliehen hatte. Melanie prüfte die Fahrräder vor der Kneipe, wobei Treder sie skeptisch beobachtete. Tatsächlich waren die meisten nicht angeschlossen. Gerade schob sie eins aus dem Ständer heraus, da kam der Besitzer aus der Kneipe herausgeschossen.


„Was machen Sie da? Klauen Sie gerade mein Fahrrad?“, fragte ein aufgeregter Mann. Mario Treder blieb abseits und beobachtete gespannt und amüsiert die Szene.
„Polizei!“, sagte Melanie ohne Mitleid und hielt ihren Ausweis hoch. „Ich prüfe hier die Sicherheit. Sie wissen schon, dass eine Begünstigung zur Straftat ebenfalls geahndet wird – oder?“
Der Besitzer, der eben noch geneigt schien bis zur letzten Patrone seinen Besitz zu verteidigen, und nach Outfit und Haarschnitt zu urteilen, auch gleich die Werte des Abendlandes mit, wurde deutlich zahmer.
„Ach so“, sagte er, „alles gut. Das Schloss war eingefroren. Außerdem hatte ich es ja im Blick.“
„Gut, dann wollen wir das mal durchgehen lassen. Schönen Abend noch,“ sagte Kriminalhauptkommissarin Melanie Veit.
Treder konnte das Lachen nur mühsam unterdrücken und als der Gast wieder in die Wirtschaft verschwand, gab es kein Halten mehr.
„Du wolltest eben echt ein Fahrrad klauen? Der Hammer!“ Melanie hatte der Vorfall munter gemacht. Sie lächelte.
„Wir hätten auch Fahrräder requirieren können,“ sagte sie. Sie liefen die Strecke zum Godewind beschwingt in beinahe dreißig Minuten. Jetzt noch eine Sauna, ein Glas Roten als Absacker und dann ist daddeldu für heute, beschloss Melanie.

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