Hans Hinrichs, Tsingtau, Mai 1914
„Es wird Krieg geben!“, sagte Meyerfeld.
Hans mochte es nicht, wenn Meyerfeld vor seiner Frau und Tochter über solche Dinge sprach. Eigentlich wollte er selbst nichts davon hören. Ja, die Welt war unruhig geworden. Bislang erreichten die Wellen nicht ihre kleine Kolonie. Und Hans hoffte, dass dies so bleiben würde. Sie hatten hier ihr Glück gefunden und das sollte keiner mehr stören. Auch Meyerfeld nicht mit seinem Gerede.
„Lisa“, wandte sich Meyerfeld an Hans‘ Frau, „bitte überzeuge Hans, dass ihr hier wegmüsst. Das ist kein Spaß mehr. In Europa zündeln alle Länder mitten im Pulverlager gerade so, als ob es kein Morgen gäbe. Die Amerikaner freuen sich ein Loch in den Bauch und treiben die Wahnsinnigen noch an, auf dass sie am Ende ernten können. Dieser Krieg wird alles, was wir bisher kannten, in den Schatten stellen und es wird in Europa keine Sieger geben. Vielleicht hält das Reich dem Chaos stand, aber die deutschen Kolonien haben nicht den Hauch einer Chance. Die Briten und Japaner trampeln schon vor der Tür und können es kaum abwarten. Waldeck hat gerade die Aufstockung der Garnison durch ein paar zehntausend Chinesen abgelehnt[23]. Der Gegner ist uns zahlenmäßig ein dutzend Mal überlegen. Was erwartet ihr? Glaubt mir, die Tage der Kolonie sind gezählt und ihr müsst hier weg – und zwar schnell!“ Meyerfeld sah die Familie eindringlich an.
Josephine hatte längst verstanden. Ja, sie würden hier wegmüssen.
„Li Li wird euch bei der Flucht helfen“, fuhr Meyerfeld fort. „Er ist zurzeit in meinem Auftrag in Schanghai und wird in ein paar Tagen wieder hier sein. Ihr wisst, Xiao Li hat mächtige Freunde und die werden euch so gut wie möglich unterstützen. Ich kann euch nichts versprechen, aber ich bin mir sicher, dass es euch an nichts mangeln wird.“
Daran hatten die Hinrichs keine Zweifel. Wenn Li Li sich um sie kümmerte, dann tut er alles dafür, jegliche Unbill von ihnen fernzuhalten. Er würde sie selbst angesichts des Weltuntergangs in Watte packen. Aber das war nicht der Punkt. Es war die Veränderung, die den Eltern von Josephine zu schaffen machte. Josephine mochte ihre Eltern nicht leiden sehen, doch sie musste es sich eingestehen, die Aufregung, die Unsicherheit und das Abenteuer elektrisierten sie. Mit fast sechzehn Jahren war sie in einem Alter, in dem ihr die Kolonie und das gewohnte Leben zu muffig wurde. Nach der Xinhai-Revolution, deren Auswirkungen in Tsingtau kaum zu spüren waren, hatte Xiao Li sie einmal mit nach Schanghai genommen. Ihre Eltern waren zwar skeptisch, aber Meyerfeld hatte ihnen erzählt, dass Präsident Sun Wen[24] bei seinem ersten Besuch in der Musterkolonie 1912 an dem jungen Mann einen Narren gefressen hatte. Li Li und seine kleine Schwester standen unter dem Schutz der jungen Republik.
Li zeigte ihr im November 1912 Schanghai. Josephine verliebte sich in der ersten Sekunde in diese Stadt. Schanghai brodelte. Hier spielte das Leben mit doppeltem Takt. Es war gefährlich, hatte sie gehört, und unendlich verrucht. Auch wenn sie mit dem Wort nicht wirklich etwas anzufangen wusste. Sie wohnten im Astor-House-Hotel, gegenüber vom deutschen Konsulat und nur wenige Minuten vom Bund entfernt. Ja, Tsingtau war schön, gemütlich und auch irgendwie nett, aber Schanghai wurde bei diesem Besuch zu ihrem Sehnsuchtsort. Sie würde auf die Tongji gehen. Nicht auf die blöde Tsingtau-Uni. Und sie würde irgendwas mit Journalismus oder Büchern studieren, auf keinen Fall Wirtschaft. Zum Glück hatten Ihre Eltern den Laden in Rostock nicht mehr. Eine Kauffrau zu sein, wäre ihr Unglück. Dann könnte sie auch gleich in den Huangpu springen, dachte sie erregt. Sie bleiben eine Woche in Schanghai. Nach ihrer Rückkehr erzählte sie ihren Eltern, Mitschülern und Freunden, was in Schanghai alles viel besser sei, als in Tsingtau.
Sun Wen kam das erste Mal am 28. September 1912 nach Tsingtau. Meyerfeld hatte Sun die Geschichte von Lis nackter Verhaftung erzählt. Sun Wen wollte sie daraufhin von Li selber hören. Er amüsierte sich über alle Maßen. Sun Wen und Li Li wanderten viele Stunden durch die Lao-Shan-Berge. Li zeigte ihm das Mecklenburghaus und den Wasserfall.
Dort meinte Sun: „Xiao Li, du bist also schon als Kind mit dem Gesetz der Qing zusammengerasselt. Du hast den alten Zopf abgeschnitten, lange bevor sich andere getrauten, überhaupt daran zu denken. Ich sage mal so … damit wirst du zum altgedienten Revolutionär in den Reihen der Tongmenhui!“ Sie lachten gemeinsam. Sun wurde bald darauf ernst: „Wir beide haben es geschafft, mit den vielen anderen, dass die Qing Geschichte sind. Das muss auch so bleiben. Ich habe hier einen guten Freund in der Kolonie, den ich gebeten habe, mich in Fragen der Bodenreform zu beraten. Schrameier heißt er. Eventuell kennst du ihn? Aber egal … Du kannst dir vorstellen, dass ich nicht nur von Freunden umgeben bin. Gerade heute lässt sich Prinz Heinrich von Preußen bei mir verleugnen und trifft sich heimlich bei Ohlmer mit Ku Hung-ming und Prinz Kung, um zu beratschlagen, wie man das Kaiserreich in der Mandschurei wieder aufleben lassen kann[25]. Eine Renaissance der tatarischen Barbaren[26] ist das Letzte, was China jetzt braucht. Dennoch, die Deutschen, solche wie der Schrameier, sind wichtige Verbündete. Nach allem, was ich bisher von der Welt gesehen habe, erscheint mir Deutschland fast in jeder Beziehung als unser gegebener Lehrmeister. Deutschland hat im Gegensatz zu England, Amerika und anderen Staaten alles und jedes systematisch und auf wissenschaftlicher Grundlage mit außerordentlicher Gewissenhaftigkeit ausgebildet. Das ist gerade das, was wir jetzt, wo wir mit aller Tradition brechen, gebrauchen. Gerade bei Deutschland haben wir den Eindruck, dass es uns wohl will, unsere augenblickliche Schwäche nicht wie andere Länder rücksichtslos ausnützt.[27] Aber an diesem Prinz Heinrich siehst du, dass nicht alle mit offenen Karten spielen – selbst die Deutschen nicht.“
Sun schwieg einen Moment nachdenklich, dann fuhr fort: „Was ich dir jetzt erzähle, ist nicht für jedermanns Ohren bestimmt.“ Er blickte Li abwartend an, der ihm sein Einverständnis zunickte. „Wie du wahrscheinlich weißt, bin ich über all die Jahre von der Bruderschaft des Himmels und der Erde[28] unterstützt worden. Das wissen alle. Selbst die Zeitungen in Amerika schreiben darüber. Was dagegen nur Eingeweihte wissen – und da zählst du jetzt zu – innerhalb der Hongmen, wie man sie im Westen nennt, gibt es eine geheime Sektion. Wir nennen sie Die Bruderschaft der drei Siegel. Unsere Wurzeln reichen weiter zurück, als die jeder anderen Vereinigung. Wir haben Brüder und Schwestern auf der ganzen Welt, nicht nur Chinesen, und dies schon seit Jahrhunderten. Über die Ziele und Ideen der Gemeinschaft wird einer unserer Lehrer dir später mehr erzählen. Wir wollen eine Welt erschaffen, die schon oft beschrieben wurde. Die Christen nennen es Paradies, andere Shangrila und so weiter. Ich staple da etwas tiefer: Wir wollen eine harmonische Gesellschaft, in der jeder einen Platz besetzt, den er gerne, nach seinen Fähigkeiten und zum Wohle der Gesellschaft ausfüllen kann. Mit dem Fall der Qing sind wir diesem Ziel den Bruchteil eines Millimeters nähergekommen.“ Sun lächelte Li an.
Li spürte, dass sein Leben eine bedeutende Wende nahm. Ja, er wollte unbedingt zur Bruderschaft gehören. Es schien ihm, als wenn sein gesamtes bisheriges Leben, das so schwer angefangen hatte, in diese Richtung gelenkt wurde. Hans mit seiner Herzensgüte, seinen Kanten und einfachen, aber anständigen Regeln. Lisa, die ihn als Erstes ins Herz geschlossen hatte; die ihm die Tür zur deutschen Kultur und Sprache aufschloss und ihn erbarmungslos förderte. Josephine, die vor allem Schwester war. Ein Kamerad, mit dem er durch dick und dünn ging und mit der er die ersten Geheimnisse vor Hans und Lisa teilte. Der undurchsichtige Meyerfeld, der Lis Gehirn ohne Unterlass zu neuen Höhenflügen motivierte und ihn lehrte, ständig alles in Frage zu stellen, selbst das vermeintlich Offensichtliche. Die Kommilitonen, die mit ihm die Republik begrüßten und ein neues Zeitalter heraufziehen sahen. Aber auch die unzähligen Begegnungen mit Europäern, Amerikanern, Chinesen, Japanern in Tsingtau, Schanghai und Chefoo. Alles waren Rädchen, die ihn zu diesem Moment mit Sun Wen in den Lao-Shan-Bergen beförderten. Das erste Mal formierte sich für ihn ein Lebensziel. Etwas, wofür es sich lohnte, sein zukünftiges Leben daran auszurichten.
Nun stand nach Meyerfelds Einschätzung der Krieg vor der Tür. Lis Brüder und Schwestern der Drei Siegel und auch er hatten die Zeichen der Zeit längst gedeutet. Es gab keinen Grund, Meyerfelds Insistieren gegenüber den Hinrichs, seinen Eltern, entgegenzutreten. Meyerfeld hatte völlig recht. Die Familie musste raus aus Tsingtau. Und zwar schnell. Lis Meinung nach hatten sie nur noch ein paar Wochen. Im besten Fall ein paar Monate. Es war längst zu spät, sie in einen Dampfer einzuquartieren und nach Deutschland fahren zu lassen. Unter Umständen würden sie aufgebracht und in ein Kriegsgefangenenlager gesteckt werden. Im schlimmsten Fall versenkte man das Schiff. Der Weg über Russland mit der Transsibirischen Eisenbahn war längst viel zu riskant geworden. Russland versank immer mehr im Chaos. Man musste schon ein gehöriges Gottvertrauen haben, um sich dieser Route anzuvertrauen. Eine Reise auf den alten Karawanenstraßen war ebenfalls reiner Irrsinn. Die Straßen wurden im Westen von Warlords kontrolliert, die nur darauf warteten, dass ihnen jemand in die Hände fiel, für den man Lösegeld erpressen könnte. Li raufte sich seine kurzen Haare. Es war zum Verzweifeln. Er würde es sich nie verzeihen, wenn den Dreien etwas passierte. Er musste einen anderen Weg finden. Und Li hatte auch schon eine Idee. Diese war vielleicht etwas ungewöhnlich, und er musste Sun Wen um Hilfe bitten, aber es würde funktionieren!
23 Gemeint ist Alfred Meyer-Waldeck. Er war der letzte Gouverneur von Kiaoutschou. Nach zwei Monaten Belagerung, vom 2. September bis zum 7. November 2014, übergab er die Kolonie an die Sieger Japan und Groß Britannien.
Tatsächlich boten chinesische Warlords den Deutschen ihre Hilfe mit ca. 100.000 Söldnern an. Waldeck hatte dies zum Glück abgelehnt, sonst wäre es zu einem unvorstellbaren Gemetzel gekommen, wie wenig später an der Westfront.
24 Sun Wen, besser bekannt als Sun Yatsen oder Sun Zhongshan (*12. November 1866 – † 12. März 1925 in Peking), war der Gründer der Republik China. Er genießt bei allen Chinesen fast religiöse Verehrung. Über diesen Mann sind unzählige Bücher geschrieben worden, auf die ich hiermit verweisen möchte.
Sun Wen war nachweislich Mitglied verschiedener Geheimgesellschaften.
25 Dieses Treffen und die Absage an Sun Wen hat es tatsächlich gegeben.
26 計秋楓; 朱慶葆 (2001). 中國近代史. Volume 1. Chinese University Press. p. 468. ISBN 9789622019874.
27 Dies ist in Wirklichkeit ein Ausschnitt aus einem Interview, welches Sun Wen dem Journalisten Erich von Salzmann gab (Erich von Salzmann: „Aus Jung-China“, Tientsin 1912): „Tsingtau hat mir ganz außerordentlich gefallen, es ist die Modellanlage einer Stadt für das zukünftige China und wenn aus jedem unserer 500 Kreise auch nur zehn Menschen nach Tsingtau gehen würden, um seine Verwaltung, seine Stadt- und Landstraßen, die prächtige Werft, den Hafen, die Hochschule, die Forstanlagen, die städtischen und Regierungsanlagen zu studieren, so könnte damit für China unendlich viel Gutes geschaffen werden. Ihr Gouverneur Meyer Waldeck ist mir mit vollendeter Liebenswürdigkeit gegenübergetreten, er ist ein Mann voller Einsicht und Wohlwollen, der richtige Verwaltungsbeamte auf einem sicherlich nicht leichten Posten. Den Prinzen Heinrich habe ich auf meiner immerhin kurzen Visite nicht sehen können war gerade aus der Stadt abwesend mit Besichtigung der Truppen beschäftigt. Deutschland könnte China keinen größeren Beweis von Freundschaft und Entgegenkommen geben, als wenn es jetzt in dieser Zeit des Aufbaus eines ganz neuen Staatswesens die zukünftige Rückgabe dieses vorbildlich angelegten Platzes eventuell in Aussicht stellen würde. Diese Rückgabe, bei der China alle Ausgaben Deutschlands voll ersetzen würde, sei es in bar, sei es in Gestalt einer Anleihe, würde heute Deutschland in China den ersten Platz einräumen und würde auch für Deutschlands Handel und Industrie tausendfältige Frucht tragen bei all den in der baldigen Entwicklung Chinas zur Vergebung kommenden Lieferungen an, an Bauten etc. würde Deutschland dann stets bevorzugt werden und ich würde selbst ganz besonders dafür sorgen, daß ein nicht endender Strom von Studenten und Beamten des Landes zum Studium aller Verhältnisse der Kolonie nach Tsingtau gehen würden ebenso wie ich hoffe, daß recht viele deutsche Beamte nach China kommen mögen, um so durch gegenseitiges Studium die Kenntnisse beider Länder und das gute Verhältnis zu einander zu fördern. Wir sehen schon jetzt auf Deutschland als einen der uneigennützigen Freunde Chinas. Ich denke mir dabei, daß eine volle Rückgabe durchaus nicht Rückgabe durchaus nicht bald zu erfolgen brauche, sondern vielleicht erst in zehn, fünfzehn. Nach allem, was ich bisher von der Welt gesehen habe, erscheint mir Deutschland fast in jeder Beziehung als unser gegebener Lehrmeister. Deutschland hat im Gegensatz zu England, Amerika anderen Staaten alles und jedes systematisch und auf wissenschaftlicher Grundlage mit außerordentlicher Gewissenhaftigkeit ausgebildet, während z.B. in England jeder tun und lassen kann, was er will, und um nur einige Gebiete zu nennen, das in seinem Zeitungswesen, der Kodifizierung seiner Gesetze seinem Städtebau z.B. Hongkong und Singapore deutlich hervortritt wissenschaftliches System gebracht ist gerade das mit aller, gebrauchen. Gerade bei Deutschland haben wir den Eindruck uns wohl will, unsere augenblickliche Schwäche nicht wie andere Länder rücksichtslos ausnützt.“
28 Tiandihui, 天 地 會 Die Tiandihui, die Gesellschaft für Himmel und Erde, auch Hongmen (die große Familie) genannt, ist eine brüderliche chinesische Organisation und historisch gesehen eine geheimnisvolle volksreligiöse Sekte in der Art der mingstreuen Weiße-Lotus-Sekte. Als sich die Tiandihui in verschiedenen Landkreisen und Provinzen ausbreiteten, verzweigte sie sich in viele Gruppen und wurde unter vielen Namen bekannt, darunter die Sanhehui. Die Hongmen-Gruppierung ist heute mehr oder weniger gleichbedeutend mit dem gesamten Tiandihui-Konzept, obwohl der Titel “Hongmen” auch von einigen kriminellen Gruppen beansprucht wird. Ihre gegenwärtige Iteration ist rein säkular.
Unter der britischen Herrschaft in Hongkong wurden alle chinesischen Geheimbünde kollektiv als kriminelle Bedrohung angesehen und gebündelt und als “Triaden” definiert, obwohl man sagen könnte, dass sich die Hongmen in ihrem Wesen von anderen unterschieden. Der Name der “Gesellschaft der drei Harmonien” (die “Sanhehui”-Gruppierung der Tiandihui) ist in der Tat die Quelle des Begriffs “Triade”, der zum Synonym für das chinesische organisierte Verbrechen geworden ist.