Kapitel 7 – Boshanlu

Li CiWen, Xiamen/ Hong Kong, Januar 2004

„Was haben wir bislang?“, fragte Li Ciwen in die Runde. „Ou Kuanli, fang Du bitte an.“
„Also gut“, begann er, „wir haben in allen alten Clans der Drei Harmonien verstärkte Aktivität bezüglich der Reiseprofile und in der Kommunikation. Wir wissen sicher, dass es nicht um größere Drogenlieferungen geht. Die Beijinger haben uns versichert, dass in den Quellgebieten nichts läuft, was über das normale Maß hinausgeht. Dasselbe gilt für Waffen und Menschenschmuggel. Die Aktivitäten betreffen die Zentralen in Hong Kong, Taiwan, London und San Francisco. Über die Banken haben wir erfahren, dass auf den üblich verdächtigen Konten Mittel verflüssigt wurden. Auch das läuft fast unter der Schwelle der üblichen Schwankungen. Wahrscheinlich sind das Aufwendungen für die angestiegene Aktivität und nicht für den Ankauf von Drogen, Waffen, Sklaven oder irgendwas. Größere Investition in Bauprojekte oder Ähnliches können wir weitgehend ausschließen. Wie Sie wissen, haben wir in den alten Clans kaum Agenten. Die wenigen, die wir haben, berichteten unisono, dass es um eine reine Chefsache geht. Bei den genannten üblichen kriminellen Abläufen waren immer untere Ebenen einbezogen. Das ist hier anders. Der Zirkel der Eingeweihten muss wirklich sehr klein sein. Alle Informanten vermuten, dass es zu einem Treffen der Clanchefs in Hong Kong kommen soll. Ob alle auf einmal oder nacheinander anreisen, wissen sie nicht. Die Wahrscheinlichkeit, dass wir da Mäuschen spielen können, halte ich für ausgeschlossen. Ich persönlich bin skeptisch, dass es ein solches Treffen überhaupt geben wird. Mir erschließt sich nicht der Sinn, warum man das machen sollte. Um es zusammenzufassen, wir wissen nichts.“
Li hatte nichts Anderes erwartet. Wahrscheinlicher wehte der Wind aus einer anderen Ecke und das wusste auch Leutnant Ou Kuanli. Doch genau das konnte er der SoKo auf keinen Fall unter die Nase reiben. Es war bizarr. Einerseits musste er weitere Aktivitäten der Alten in diese Richtung unterbinden, dazu brauchte er jeden Mann und jede Frau in seinem Team. Gleichzeitig mussten er und Ou um jeden Preis verhindern, dass das tatsächliche Ziel der Drei Harmonien offensichtlich wurde. Das war die Quadratur des Kreises. Li vermutete, dass andere ältere Bruderschaften, die eher weniger mit der organisierten Kriminalität zu tun hatten, ebenfalls in den Ring steigen würden. Und dann waren da die Geheimdienste aller möglichen Länder, die den Triaden traditionell nahestanden. Li bekam Kopfschmerzen. Die wichtigste Rolle spielte die Zeit. Wer am schnellsten war, der konnte den Deckel draufhalten. Selbst wenn die Alten ebenfalls noch im Trüben fischten, so waren sie Li und den anderen weit voraus. Was zum Teufel war da drüben los. Haben die Aktionen wirklich was mit seinem Großvater beziehungsweise mit dessen Vermächtnis zu tun oder ging es doch nur um den täglichen Wahnsinn der organisierten Kriminalität? Er konnte diese brennenden Fragen unmöglich hier in Xiamen klären. Er musste nach Hong Kong. Ou würde die SoKo hier führen müssen, für die Kommunikation sorgen, die Informationen sammeln … und gegebenenfalls zensieren.

Walled City Kowloon – City of Darkness

„Wei?“, hörte Li CiWen am anderen Ende der Leitung. „Hallo, alter Freund, Gede hier.“ Eine Weile herrschte Stille in der Leitung. Li dachte schon, die Verbindung wäre abgerissen.
„Gede?!“, schnaufte es aus dem Hörer. „Irgendwie habe ich ja mit deinem Anruf gerechnet. Du wolltest dich sicher erkundigen, was ich so zum Frühlingsfest mache, richtig?“
Natürlich konnte Li unmöglich über das Telefon mit Lim Tok21 Polizeidinge bereden und schon gar nicht über die Drei Harmonien. Er hatte verstanden: Auch Lim war beunruhigt. „Ja, du weißt ja, ich bin nicht so der Feiertyp. Ich überlege gerade, ob ich mir ein paar schöne Tage in Hong Kong gönnen soll. Kein Familienstress, gut essen mit alten Kameraden und auf dem Peak die Seele baumeln lassen. Was hältst du davon?“, fragte Li.
„Eine ausgezeichnete Idee“, antwortete Lim Tok. Ich mache eine Kammer auf meinem Boot frei. Du bist hier jederzeit willkommen. Sag mir Bescheid, wann du kommst. Ich hole dich vom Flughafen ab und dann können wir wie früher um die Blöcke ziehen. Hier hat sich seit deinem letzten Besuch viel verändert. Aber das weißt du sicher?“ Li verstand den Wink mit dem Zaunpfahl.
Lim Tok fuhr fort: „Auch die Kriminellen sind nicht mehr das, was sie mal waren. Aber ich will nicht klagen. Ich habe als bekanntester Privatdetektiv Hong Kongs immer noch die Auftragsbücher voll. Hong Kong könnte gehörnte Ehemänner und betrogene Frauen exportieren und würde unvorstellbar reich werden ….“
„Ihr seid doch schon unanständig reich“, unterbrach Li ihn, „behalte mal deine Beziehungsprobleme da drüben. Hier ist das mit der Ehe auch nicht mehr das, was es mal war“.
„Ja ich hab‘s gehört, du bist wieder solo und hast dem schönen Qingdao Lebewohl gesagt. Nicht, dass du in Hong Kong deinen zweiten Frühling starten willst?! Weißt du … ich bin auch ein bisschen älter geworden.“
„Nein, nein“, lachte Li, „nur mal ein bisschen Abstand gewinnen, mit alten Freunden reden. Weißt schon, über das Leben und so.“
Nichts lag Li ferner, als mit dem, mit allen Wassern gewaschenen, Lim Tok über das Leben zu reden. Das brauchten sie auch gar nicht. Sie hatten oft miteinander gearbeitet und sich gegenseitig schätzen gelernt. Lim war nach außen der harte Privatdetektiv, den sich Krimischreiber nicht hätten besser ausdenken können. Sie hatten sich ein paar Mal gegenseitig das Leben gerettet, und er wusste, dass man Lim zu hundert Prozent vertrauen konnte – in jeder Hinsicht. Sie konnten sich gegenseitig lesen und brauchten dabei kein Wort zu sagen. Die Tatsache, dass auch Lim Tok zu den Drei Siegeln gehörte, spielte da schon keine Rolle mehr. Schade, dass er von Qingdao aus kaum Kontakt mit ihm gehalten hatte. Das würde er ändern, nahm er sich vor. Vorausgesetzt, sie kamen aus der Sache hier heil wieder heraus.

Hong Kong 2021

Nach zwei Tagen konnte Li endlich nach Hong Kong fliegen. Es war doch nicht so einfach gewesen, die Vorgesetzten zu überzeugen, dass er dort mehr ausrichten könne als in Xiamen. Li war sich sicher, dass auch hier wieder im Hintergrund die entscheidenden Weichen gestellt wurden. Er hatte das schon öfter erlebt. Erst erschien ein Ansinnen völlig an der Realität vorbei gedacht zu sein und die Ablehnung der nächsten Vorgesetzten war beinahe körperlich zu spüren. Dann setze sich im Hintergrund ein geheimes Uhrwerk selbsttätig in Gang und prompt bekam er sein Anliegen innerhalb einer annehmbaren Zeit durch alle bürokratischen Hürden. Das waren keine Gefallen, die man ihm seiner Stellung zuliebe gewährte und auch das hohe Ansehen und die Verdienste seines Großvaters waren nicht die Ursache. Das wusste Li CiWen ganz genau. Dahinter stand immer der lange Schatten seiner namenlosen Brüder und Schwestern.

Hong Kong begrüßte ihn mit Sonne, klarem blauem Himmel und zwanzig Grad. In zwei Tagen wird hier das chinesische Neujahr gefeiert. Dieses Ereignis, eigentlich ein reines Familienfest, zog von Jahr zu Jahr immer mehr Touristen aus aller Welt an. Bis vor kurzem konnte sich auch Li nicht vorstellen, diese Tage anderswo, als in seiner Familie zu verbringen. Trotz des Anlasses war er dennoch erleichtert, dass er einen triftigen Grund angeben konnte, nicht nach Qingdao fahren zu müssen. Die SoKo in Xiamen würde die nächsten paar Tage nur mit halber Kraft laufen. Wer es irgendwie arrangieren konnte, der fuhr zu seiner Familie. Egal, wie weit weg das war. Millionen Chinesen waren in dieser Zeit auf dem Weg irgendwo hin. Mit dem Zug oder dem Bus zu reisen, wurde zum besonderen Abenteuer. Selbst auf den Flughäfen bemühte sich das Chaos, die verbliebene Ordnung sichtbar zu verdrängen. Sein Flug war bis auf den letzten Platz ausgebucht und es brauchte ein wenig staatliche Intervention, damit er noch einen Sitz in der Dragonair bekam. Dabei flogen täglich mehrere Maschinen von Xiamen nach Hong Kong und zurück. Taiwan war zwar beinahe in Sichtweite, aber es gab keine Flugverbindung zwischen der Volksrepublik und Taiwan. In Xiamen, der ersten Sonderverwaltungszone Chinas, existierten unzählige taiwanische Firmen, deren Angehörige um diese Zeit auf ihre Insel wollten. Alle mussten über Hong Kong fliegen. Der Preis oder die Klasse spielte keine Rolle. Hauptsache irgendeinen Platz ergattern. Der Schwarzmarkt feierte Höchstpreise.
Als Li das erste Mal nach Hong Kong flog, landete er auf dem berüchtigten Kai-Tak-Airfield der Royal Air Force. Damals holte ihn Lim Tok in der Winter-Blue-Uniform der Royal Hong Kong Police Force ab. Heute hatte er sich, wie Li auf das universelle helle Sakko, weiße Hemd, schwarze Hose und schwarze Schuhe eingelassen – ohne Krawatte. Lim Tok hatte offensichtlich genauso wenig Lust, wertvolle Lebenszeit mit der Kleiderwahl zu verschwenden. Oberflächlichen Beobachtern konnten sie, als zum Dresscode gezwungene Angestellte der gleichen Firma durchgehen. In gewisser Weise stimmte das ja auch. Lim Tok musste den gleichen Gedanken haben.
„Schicke Klamotten“, begrüßte er ihn, „waren sicher teuer.“

So koennte Lim Toks Boot aussehen


Lim wohnte immer noch auf dem alten Kahn in Aberdeen, auf dem ihn Li das letzte Mal besucht hatte. Auf einem Boot zu wohnen, wurde in Hong Kong immer schwieriger. Das Gouvernement versuchte, dies weiter einzudämmen. Schon den Briten waren die Boote ein Dorn im Auge. Niemand konnte wirklich sagen, wer und wie viele auf einer solchen Dschunke lebten und was die so trieben. Die Boatpeople waren eine eingeschworene Gemeinschaft. Nachbarn durch die Polizei auszuhorchen, war in diesem Umfeld zum Scheitern verurteilt. Kein Wunder, dass die Boote allerlei lichtscheue Zeitgenossen anzogen. Lim Tok konnte es sich längst leisten, in eines der Häuser in Hong Kong Island, Mong Kok oder wo immer es ihm beliebte, umzuziehen. Geld war nicht das Problem und billig waren die Liegeplätze auch nicht mehr. Doch er hatte beschlossen, das Unvermeidliche so weit wie möglich hinauszuschieben. Er würde den brackigen Geruch, die Geräusche auf dem Meer und das stetige Plätschern vermissen. Weniger vermissen würde er das Gebrüll des Sturms in der Taifun-Saison. In dieser Zeit, auf dem Boot auszuharren, dafür war er zu alt, gestand sich Lim Tok ein.

Walla Walla


Li CiWen legte seine Reisetasche auf das Bett. In der gleichen Kammer hatte er letztes Mal geschlafen. Viel hatte sich nicht verändert. Obwohl der Aufenthalt eine Weile her war und damals nur zwei Wochen dauerte, fühlte er sich zu Hause angekommen. Er tauschte das Sakko gegen einen abgetragenen Pullover und stieg an Deck. Li hatte den kleinen Tisch vor dem Steuerhaus gedeckt. Es gab das Essen, welches sie auf der Fahrt hierher vom Take-away mitgenommen haben. Dabei standen ein paar Flaschen Tsingtao-Beer.
„Ernsthaft jetzt?“, fragte Li CiWen.
„Nee, nee“, lachte Lim Tok, „ich habe auch richtiges Bier hier. Ich dachte, wegen Heimat und so. Oder willst du lieber einen echten Mao Tai? Ich habe welchen unten.“
„Mit oder ohne Zollbanderole?“, frotzelte Li.
„Bruder Li! Du weißt doch, in Hong Kong ist alles Duty Free. Gott schütze die Königin und erhalte uns den Status!“, prostete Lim Tok ihm zu. Sie wurden ernst.
„Was weißt du bislang“, fragte ihn Li CiWen unvermittelt.
„Na ja, ich wäre falsch in meinem Job, wenn ich nicht mitbekommen hätte, dass bei den Alten irgendwas im Busch ist. Du weißt ja, dass ich ganz gute Verbindungen in die alten Clans habe. Auch in die höheren Ebenen hinein.“ Lim hielt inne und dachte nach. „Du weißt, dass du ein U-Boot getroffen hast, wenn Öl, Ausrüstungen und Teile von Seeleuten aufgetrieben werden. Ich fürchte, wir sind getroffen worden.“
Lis Magen drehte sich um. „Was haben sie gefunden?“, fragte er.
„Genau weiß ich es nicht, aber sicher ist, es stammt aus unserem … nun ja … Boot. Der Gegenstand wurde auf einer Auktion in einem Herrenhaus in Kent angeboten. Wahrscheinlich nicht zum ersten Mal. Blöderweise war diesmal ein Hehler der Alten auf der Auktion. Der hat den Gegenstand erkannt. Ich weiß nur, dass es sich um einen Metallgegenstand aus der Han-Dynastie handelt. Wenn du mich fragst, dann ist es ein Boshanlu. Davon sind etliche im Register von Li Li aufgeführt. Mein Informant sagte, dass Christies den Gegenstand für 45.500 Pfund losgeschlagen hat. Ein Boshanlu aus der Zeit bringt um die 10.000 Pfund. Dass so gnadenlos überboten wurde, deutet für mich auf ein weiteres Problem hin. Für die Alten war nur der Hehler dort, aber an dem müssen noch andere Parteien dran gehangen haben. Ich kann mir gut vorstellen, dass meine ehemaligen Polizei-Kollegen dem Hehler auf den Zahn fühlen und sehen wollten, wieweit er denn geht, mit seinem Gebot. Die Kent Police ist ja nicht blöde. Wenn die Triaden etwas ersteigern, ohne sich um den Preis zu kümmern, dann muss so richtig was im Busch sein. Wenn meine Einschätzung stimmt, dann haben die jetzt auch Blut gewittert.“
„Nehmen wir mal an, du liegst völlig richtig“, sagte Li, „dann werden die Alten alles daransetzen und versuchen, herauszubekommen, wo die eigentliche Quelle ist. Bislang flogen wir immer unter deren Radar. Die wissen nicht mal was von unserer Existenz. Das sollten wir auch nicht ändern. Aber uns muss ein Weg einfallen, wie wir die Triaden und deren Rattenschwanz vom Weg abdrängen können. Ich bin da im Moment etwas ratlos. Ich verstehe weder, wie was auftauchen konnte, noch ist mir klar, wieso das nun ausgerechnet in England sein muss. Ou berichtete mir“, fuhr Li fort, „dass es ein Treffen der Alten geben soll. Allerdings war er eher skeptisch. Ich glaube, er hielt das für Wichtigtuerei der Informanten. Wie auch immer. Über dieses vermeintliche oder tatsächliche Treffen müssen wir unbedingt mehr erfahren. Immerhin wäre das eine willkommene Gelegenheit, unsere Gegenspieler zu identifizieren.“

Aberdeen

Schreibe einen Kommentar