Kapitel 4 – Baozi

Li CiWen, Xiamen, Januar 2004

Es waren nur noch wenige Tage bis zum Frühlingsfest. Eigentlich müsste er bald zu seiner Familie nach Qingdao fahren. Die Tochter würde aus den USA zu Besuch kommen, aber so rechte Lust auf große Familientreffen hatte er seit seiner Scheidung nicht mehr. Plötzlich schien er in den Augen seiner Familie wieder zwanzig zu sein und sollte unbedingt aufs Neue verkuppelt werden. Nun gut, äußerlich betrachtet war sein Leben gerade etwas aus den Fugen. Die Karriere stagnierte, dann die Scheidung natürlich und Freunde hatte er hier in der Fremde keine. Die lebten ihr Leben vier Flugstunden von hier. Und ob es wirklich Freunde waren, wusste er nicht genau zu sagen. Dennoch, er fühlte sich gut. Im Grunde müsste er seiner Ex-Frau dankbar sein. Seine Lebensplanung war auf angenehme Art unsicher geworden.

Xiamen

Der Umzug von Qingdao nach Xiamen war klein. Ein paar alte Bücher, die Familienalben, ein Bücherschrank und weitere Möbel aus Teak und der monströse Ledersessel des Großvater Li Li. Die alten Sachen verströmten einen heimeligen Geruch. Er machte das Fenster weit auf und ließ die Geräusche des Morgens in sein kleines Kabinett. Müllsammler riefen, Schulkinder machten sich lautstark auf den Weg, im Haus trappelte es geschäftig. Die Musik der Alten beim morgendlichen Tai-Chi wehte aus dem Park herüber. Drei Baozi für zwei Yuan hörte er einen Verkäufer von der Straße. Der Milchmann stellte seine Milch scheppernd in die Box. Es war angenehm warm. Ein enormer Vorteil dieses Breitengrades und ein weiterer Grund, sich gut zu fühlen.

Neujahrsladen

Es legte ihm keiner mehr die Kleidung raus. Als er noch Uniform trug, war das alles einfacher. Doch seit ein paar Jahren mussten die Ermittler der Kripo keine mehr tragen. Das verkomplizierte die Sache unnötig. Er machte sich nicht viel aus Kleidung. Das war mal anders. Oder genauer gesagt, seine Frau achtete darauf, was er wann und zu welcher Gelegenheit zu tragen hatte. Ohne sein Zutun wurde ihm ein Hang zu guter und stilvoller Kleidung unterstellt. Er war ein gut angezogener Mann von Welt, mit einer schönen Frau, einer erfolgreichen Tochter in Boston und auf Du mit den wichtigen Personen der Gesellschaft.

Neulich sah er im Bus einen freundlich lächelnden Mann vom Land, der in die Stadt fuhr. Vermutlich auf dem Weg zum Markt, den Eierkörben nach zu urteilen. Er trug abgetragene, blitzsaubere Sachen mit unübersehbaren Ausbesserungen. Die Flicken waren geometrisch exakt platziert und mit feiner und präziser Naht angenäht. Sicher steckte auch da eine Frau dahinter, aber so erhaben, wie dieser Bauer ihm erschien, hatte er sich in all den Ehejahren nie gefühlt. Der Anblick wärmte ihm das Herz.
Weißes Hemd, schwarze Hose, schwarze Schuhe, helles Sakko, keine Krawatte, das war seine neue Uniform. Wenn er nicht dicker wurde, dann würde der Vorrat im Schrank bis zu seiner Pensionierung reichen. Unten im Haus gab es einen Waschservice. Waschen, bügeln, legen und das alles zu einem Preis, den sich ein chinesischer Polizist leisten konnte. Die Besitzerin war nett, solo und unwesentlich jünger als er. Ein paar Mal schon dachte er darüber nach, sie zum Essen einzuladen. Er zog das Sakko an, schloss die Tür, nahm die Milch, kaufte drei Baozi für zwei Yuan und machte sich frühstückend auf den Weg zu seiner Dienststelle.

Freimaurer auf Gulang Yu

„Hallo Gede“, begrüßte ihn ein Kollege an der Pforte. „Du sollst zum Chef kommen. Scheint was Wichtiges zu sein. Hat schon ein paarmal nach dir gefragt.“
Der Chef hatte die Angewohnheit als Erster in der Dienststelle zu erscheinen. Sollte ein Kollege doch mal vor ihm da sein, dann konnte man sicher sein, dass er am nächsten Tag noch früher erschien. Das war einerseits rührend und hinterließ zweifellos den gewollten Eindruck bei den Kollegen, aber es sorgte auch dafür, dass er auf die Mitarbeiter, die meist regulär anfingen, ständig warten musste. Und Geduld gehörte leider nicht zu des Chefs Tugenden. Also beeilte Li sich.

„Morgen Major Gede“, begrüßte ihn der Dienststellenleiter Teng Shenfeng. Den Major konnte er sich nicht verkneifen, denn er war erstens jünger und zweitens noch Hauptmann. Teng hatte lange Zeit interveniert, als er hörte, dass ein Dienstgradhöherer in seine Dienststelle kommen sollte. Aber nachdem er Li kennengelernt hatte und alle Gründe für die Versetzung nach Xiamen von Li selbst hörte, war fast so etwas wie eine Freundschaft zwischen Ihnen entstanden. Li würde ihm niemals den Posten des Dienststellenleiters abspenstig machen und es war wahrscheinlich, dass es mit den Beförderungen nach dem Major nicht mehr so recht voranging. Li konnte damit gut leben und Teng noch viel besser.

Fischmarkt

„Ich hab hier eine Mitteilung aus Beijing“, fing Teng an, „ich werde später die anderen Kollegen informieren, aber ich wollte mit dir zuerst sprechen. Verschiedene Quellen berichten von einer plötzlich angestiegenen Aktivität in den Kreisen der organisierten Kriminalität, hier im Mainland, in Hong Kong und Macao und sogar in Taiwan. Selbst aus Übersee reisten etliche bekannte Gesichter an. Es gibt nicht unbedingt mehr Vorfälle, sondern eher so was wie plötzlich angestiegene Kommunikation, mehr Reisetätigkeit und so. Allerdings trifft das nur auf die alten Clans der Drei Harmonien zu. Jüngere Organisationen haben die Hektik zwar bemerkt, aber unsere Informanten sind sich sicher, dass die genauso auf dem Trockenen sitzen, wie wir auch. Ein Problem ist, dass wir fast nur Leute in den jüngeren Clans haben. Du kannst dir vorstellen, dass, wenn die alten Gesellschaften plötzlich alle gemeinsam aktiv werden, dies politische Implikationen hat. Das letzte Mal hat der Drache der Drei Harmonien10 sein Haupt erhoben, als die Qing-Dynastie in den Orkus der Geschichte entsorgt wurde. In Beijing ist man nervös. Man hat eine SoKo gegründet, die von hier aus operieren soll. Und jetzt kommen wir zu dem Teil, warum ich dich zuerst alleine sprechen wollte. Die Beijinger haben dich zum Chef der Soko ernannt. Was mir übrigens sehr recht ist. Du sollst dir einen kleinen Stab aus unseren Leuten hier zusammensuchen. Beijing schickt einen Weiteren und … nun ja … aus Qingdao kommt auch einer.“
„Bruder“, entfuhr es Li, „was soll das denn? Der Tag fing so gut an. Wir sollen von Xiamen aus bei den Triaden rumstochern? Was können wir denn ausrichten, was die Beijinger nicht könnten?“
„Moment“, unterbrach ihn Teng, „ich war noch nicht ganz fertig. Jetzt kommen wir zum komischen Teil. Ich soll dir außerdem und jetzt fahr ich mal wörtlich fort: Von einem alten Freund Grüße bestellen und fragen, ob du noch den Schal von Li Li hast.“

Buchladen in Shapowei

Li sackte in sich zusammen. Großvater Li, der Held der Familie, Revolutionsadel und besonderer Förderer seines Enkels Major Li CiWen, streckte seine Hände aus seinem Grab nach ihm aus. Schlagartig war ihm klar, was die Aktivitäten der alten Gesellschaften zu bedeuten hatten. Sein Großvater hatte immer wieder versucht, ihn auf diesen Tag vorzubereiten. Insgeheim hatte er gehofft, dass er die Stafette an jemanden weiterreichen konnte, wenn seine Tage gezählt sind. Aber so billig ließ ihn die Bruderschaft nicht davonkommen. Nun würde sich zeigen, ob er wirklich die Hoffnungen, die sein Großvater – und nicht nur er – in ihn gesetzt hatte, wird erfüllen können. Teng blieb nicht verborgen, was die Erwähnung des Großvaters bei Li CiWen auslöste. Er wusste zwar nicht, um was es ging, aber er spürte instinktiv, dass es etwas Großes sein musste. So groß und so alt, dass er auf keinen Fall etwas damit zu tun haben wollte.

Am Fischmarkt

Anderthalb Tage hatte es gedauert, dann stand die Soko 3-8-21. Ein Gebäude auf dem Polizeicampus wurde freigemacht, Schlösser getauscht, Fax, Telefone und Computer angeschlossen, ein rasend schneller Server mit ungehindertem Zugang zum Internet aufgesetzt und mit den übrigen Computern im Gebäude vernetzt. Die Computer wurden direkt vom Xiamener Dell-Gelände in die Dienststelle gekarrt. Selbst neue Klimaanlagen installierte man … in jedem Raum. Gar nicht so schlecht, wenn man unbegrenzten Zugriff auf alle Ressourcen hat, dachte Li, es hätte aber auch alles gerne wie bisher weitergehen können. Nun gut, die Würfel waren gefallen. Er brauchte seine ganze Energie für die Zukunft. Ou Kuanli, der Qingdaoer Kollege, stellte sich als ein junger Leutnant heraus, der gerade die Polizeischule verlassen hatte. Er konnte ihn nicht aus Qingdao kennen. Dennoch gehörte dieser Mann zu einem kleinen und speziellen Kreis Eingeweihter. Möglicherweise der, der einmal den Staffelstab von ihm übernehmen sollte. So wie sein Großvater einst ihn unterrichtete, müsste er Kuanli auf die Aufgaben vorbereiten. Doch dazu mussten sie das Baby erst mal schaukeln. Sollte ihnen das nicht gelingen, ist alles weitere Makulatur. Ein über hundert Jahre alter Plan fiele in Wasser, nur weil der Enkel des großen Li versagte … Er mochte gar nicht weiter daran denken.

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