Kapitel 3 – DDR-Blues

Melanie Veit, Hiddensee, 4. Februar 2004

Tote werden immer zu einer Unzeit gefunden. Vielleicht hingen Geburt und Tod auf diese Weise zusammen. Entbindungen fanden ebenso wenig zu normalen Zeiten statt. 2:20 Uhr nachts ging die Meldung in Stralsund ein; eine Leiche am Ostseestrand von Vitte. Eine halbe Stunde später stand vor der Wohnung von Kriminalhauptkommissarin Melanie Veit der Wagen ihres Kollegen. Warum nicht mal ein 9to5-Leichenfund, fragte sie sich, als sie sich missmutig anzog. Hiddensee – das bedeutete eine Stunde auf einem schaukelnden Boot, im Schneeschauer und mit leerem Magen. Letzteres war wahrscheinlich gut so.

Lighthouse, Dornbusch, windswept tree


Wenn Dinge kompliziert anfingen, dann wurden sie nie besser, unkomplizierter. Melanie hatte diese Erfahrungen etliche Male gemacht. Wenn einmal der Wurm drin war, dann blieb er da. Das war vermutlich ein Naturgesetz, denn es betraf nicht nur ihre Arbeit, sondern auch ihr übriges Leben. Sie schob die miesen Gedanken beiseite und versuchte, sich auf den Fall zu konzentrieren. Kriminaloberkommissar Martin Treder berichtete durch die angelehnte Tür, während sie sich weiter anzog: „Die Leiche, männlich, circa fünfzig Jahre, bekleidet, wurde circa ein Uhr fünfundvierzig von einem spazierenden Ehepaar gefunden, welches sofort den Notruf informierte. Der Mann lag mit dem Kopf nach unten im seichten Wasser. Sie versuchten, Lebenszeichen festzustellen. Es gab wohl ein paar Wiederbelebungsversuche, aber die führten bekanntermaßen zu keinem Erfolg. Der Kollege auf der Insel wurde vom Notruf verständigt, welcher dann den Fundort sicherte und einen Arzt holte.“

Neuendorf, Port

Sie konnte sich jedes Mal über Treders gestelzte Art beeumeln: 1:45 Uhr, mehr circa ging nicht – bekanntermaßen.
Treder fuhr fort: „Es ist möglich, dass der Mann ertrank, aber der Arzt äußerte Zweifel über die Todesursache. Er fand deutliche Hinweise auf eine Vergiftung.“
Gift war schlecht. Ein Unfalltod oder eine außer Kontrolle geratene Kneipenschlägerei ging so, aber Gift hieß immer sehr viel Vorsatz und deutete auf einen nicht komplett verblödeten Täter hin.
„Wie sehen denn diese Hinweise aus?“
„Sein Gesicht beziehungsweise seine Körperhaltung deuten auf große Schmerzen hin und es gibt Einblutungen in Augen, Zahnfleisch und Gaumen, Schaum im Rachenraum – was immer das heißen mag. Wie gesagt, der Arzt will sich nicht festlegen. Vielleicht hat der Tote was Schlechtes gegessen, ist rausgegangen, um durchzuatmen, am Wasser ohnmächtig geworden und dann ertrunken“, mutmaßte Treder.
„Ist schon eine Rechtsmedizin verständigt?“, fragte sie.
„Ähmm nein, noch nicht. Rostock und Greifswald schlafen noch.“
Wobei er Rostock deutlich leiser als Greifswald aussprach. Sie lächelte. Er wusste, dass sie es ihm nicht verzeihen würde, wenn diese Entscheidung ohne sie gefallen wäre.
„Gut, dann rufen Sie in Rostock an, und sagen denen, dass wir ein Paket für sie haben. Klären Sie auch gleich die Überführung der Leiche. Bei einem Giftmord zählt jede Minute. Wir haben nicht viel Zeit.“

Gellen, Heathland

Leicht resigniert nahm Treder die Anweisung zur Kenntnis. Es gab ein Übereinkommen, dass Stralsund in den Aufgabenbereich der Rechtsmedizin Greifswald fiel. Das war kein festgeschriebenes Gesetz und wurde variabel gehandhabt. Durchbrach man diese Regel, dann musste man sich allerdings auf Fragen einstellen. Hauptkommissarin Veit hatte ihre persönlichen Ansichten zur Rechtsmedizin in Greifswald. Vor Treders Zeit musste es zu einer Ermittlungspanne oder mindestens eine Verkettung unglücklicher Umstände durch die Greifswalder gekommen sein. Er wusste nicht, was damals vorgefallen war und auch die anderen Kollegen wussten entweder wirklich nichts oder wollten dazu nichts sagen. Natürlich würde auch diesmal eine plausible Begründung im Bericht stehen. Immerhin ging es um Mehrkosten. Indessen war er sich sicher, alle Beteiligten bis hin zum leitenden Staatsanwalt erwarteten keine andere Entscheidung von ihr.
Im Grunde konnte es ihm egal sein, aber es war klar, diese feine Auslegung seiner Chefin würde in dem Augenblick zum Problem, wenn die Greifswalder anfingen zu zucken. Jedoch, dies war die zweite Merkwürdigkeit – die zuckten nicht. Kein einziges Mal, seit er im Team Veit spielte.
„Was soll ich den Rostockern sagen, warum nicht Greifswald?“
Sie zögerte, „Sagen Sie, Verdacht auf ein exotisches Gift – Kugelfisch oder so.“
„Kugelfisch?! Soll ich auch gleich die Durchsuchungsbeschlüsse aller Hiddenseer Kneipen erwirken?“, fragte Treder.
„Nicht so spitz mein lieber Martin. Ich folge nur Ihrer Eingangsthese: eventuelle Lebensmittelvergiftung und dann Tod im Wasser – wie auch immer. Kann eine ranzige Miesmuschel gewesen sein, ein Hering vom Vorjahr und Kugelfisch auch.“
„Klar Chef, ich ruf die Rostocker an und den Beerdigungsdienst für die Überführung.“
„Hat unser Hiddenseer Kollege sonst noch was?“
„Nein, nicht wirklich. Der Arzt praktiziert schon seit zehn Jahren da drüben und das Ehepaar, das den Toten gefunden hat, sind Touristen aus Berlin. Die sind ortsbekannt und kommen wohl schon seit DDR-Zeiten mindestens einmal pro Jahr.“
„Ah, solche“, entfuhr es ihr. Und gleich darauf ärgerte sie sich über diese Äußerung gegenüber Martin.

Vitte Ferry

Sie kannte die Insel schon aus Kindheitstagen. DDR-Zeiten, wie man heute sagt. Und ja, ihre Eltern und später sie mit ihren Freunden, fuhren aus Gründen hinüber, welche heute solche anzulocken vermag. Jede Generation unterstellte Hiddensee, ein Refugium zu sein. Sie fuhr seinerzeit ihren Idolen, den verbotenen Bands, hinterher. Raus aus dem miefigen Jugendzimmer in Rostock und weg von der elterlichen Überwachung. Die Bands wiederum flohen vor ihren Peergroups und IMs in Pankow, Jena oder Halle. Nur dass man damals noch nicht Peergroups sagte und IM auch nicht. Alles Flüchtlinge. Und die prallten dann auf die Hiddenseer. Bands war ihre Metapher für alles, was sie seinerzeit für nichtangepasst, rebellisch und besonders klug hielt. Erst beim Studium ihrer Stasiakten hatte sie erfahren, dass auch die Bands so durch und durch DDR waren. Sie setzten sich nicht wirklich ab, sondern waren wichtiger Teil des Ganzen. Die Insel bot das kleine Glück. Man konnte sich gut etwas vormachen. Dort konnte sich der Revolutionär an den Kaffeetisch mit Häkeldeckchen setzen, über die Befreiung von Irgendwas schwadronieren und gleichzeitig ungestraft Casper David Friedrich gut finden. New York, Rio, Ho Chi Minh City? – Nö, Hiddensee! Und abseits der Heuchelei fand sie das auch gar nicht so verkehrt. Häkeldecke und Obstschale von Hedwig Bollhagen. Heimat. Das kleine Glück eben. Das machte vieles erträglich.

Neuendorf Abandoned Guesthouse

Ihre Ausreise aus der DDR, Mitte der 80er, riss diese Fassade endgültig ein. Da war kein Platz mehr für das kleine Glück in der kleinen DDR. Die, die bis zum bitteren Ende durchgehalten hatten, übten sich im Verdrängen. Und wieder musste Hiddensee ran – anschaffen fürs kleine Glück. Sie musste sich zusammennehmen, wenn sie die beiden befragte. Bevorzugte Reiseziele von Zeugen waren nicht ihr Thema. Auch dann nicht, wenn es ihr als Reibungsfläche willkommen war. Im Auto erledigte Treder die letzten Anrufe und dann stiegen sie ins Boot nach Hiddensee.

Grieben

Sie blickte aus dem Fenster und sah nichts außer dichtem Schneetreiben und Gischt. Lange konnte es bis zur Ankunft nicht mehr dauern und trotz ihres Unwohlseins bekam sie Hunger. Auf Deck hörte sie zunehmende Geschäftigkeit. Dann rumpelte es leicht und sie legten an. Erst im letzten Augenblick konnte sie die Pier erkennen. Was für eine Nacht. Mit dem Hunger wuchs ihre schlechte Laune. Zu der gesellte sich die Anspannung, die sie so genoss. Sie war auf der Jagd. Übelgelaunt, frierend und voller Adrenalin trat sie auf die Pier.
Auf dem Steg stand ein Beamter in Uniform. Offensichtlich der Kollege, welcher sie informiert hatte.

„Hallo Frau Kollegin, Herr Kollege. Mein Name ist Polizeiobermeister Alex Papageorgiu. Ich bin der hiesige Polizist, vertretungsweise. Die Spurensicherung ist bereits da. Mein Kollege Polizeimeisteranwärter Henry Bade ist drüben am Ostseestrand und vertritt mich kurz. Wenn ihnen Papageorgiu zu lang erscheint, nennen Sie mich einfach Papa,“ begrüßte er sie todernst.
Schlank, schwarze Locken, schmales Gesicht, klassische Nase – nicht schlecht, dachte sie, wahrscheinlich DDR-Grieche8.
Er musterte sie ebenso und sie genoss das. Melanie wusste um ihre Wirkung auf Männer. Sie war die Frau aus der Werbung mit hüftlangen Haaren, die ihrem Gatten devot Halbfettmargarine aufs Brot strich – bevor dieser für die Familie das Geld ranschaffte und sie mit ihrer Tochterfreundin ins Fitnessstudio schlenderte. Wer sie kannte, der wusste, dass nichts falscher sein konnte. Sie war kinderlos, mannfrei und anspruchsvoll, wie sie sich gelegentlich vorstellte, wenn sie langweiligen Bargesprächen vorbeugen musste – ein Schaumgummiball mit Stahlkern. Papa, so schien es ihr, war aus ebensolchem Holz. Und als Seelenverwandter konnte er alle Zeichen deuten.
„Sie haben sicher Hunger? Ich hab drüben in der Pension Schreier ein paar Lunchpakete für Sie machen lassen. Diese Nacht hat hier eh keiner geschlafen. Konnten endlich mal mit Tatütata fahren … Wir kommen auf dem Weg zum Strand dort vorbei.“ Durch das dichte Schneetreiben stapften sie los zum Ostseestrand.

Former home of the silent film actress Asta Nilsen.

Auf dem Weg telefonierte Papa mit dem Arzt. Der hatte solange zu Hause auf die Ankunft der Stralsunder gewartet. Dr. Niemann traf kurz nach ihnen am Tatort ein. Über der Leiche war ein Zelt aufgestellt worden, was die Situation ein wenig bizarr erscheinen ließ. Die eine Hälfte des Zeltes stand über dem Wasser, die andere über dem Strand. Es war in einem größeren Abstand von vier großen Strahlern umgeben. Exakt in der Mitte des Zeltes lag die Leiche. Fünfzig Meter weiter tuckerte ein feuerrotes Stromaggregat. Die Silhouetten der Mitarbeiter der Spurensicherung zeichneten sich an den Zeltwänden ab. Innerhalb des Zeltes beleuchteten zwei weitere Strahler die Szenerie. Zu dieser unanständigen Lichtflut am nächtlichen Strand gesellte sich dickflockiger Schneefall. Zum Glück gab es keine Schaulustigen, das würde sich in ein paar Stunden ändern. Der Arzt betrat das Zelt.
Papa wandte sich an ihn: „Hallo Herr Dr. Niemann, darf ich vorstellen? Das ist Frau Kriminalhauptkommissarin Veit, Herr Kriminaloberkommissar Treder. Frau Veit, Herr Treder, das ist Dr. Niemann, unser Inselarzt.“
„Hallo, freut mich sehr, wenn auch die Umstände … nun ja. …“, ließ Niemann den Satz offen.
Melanie sah es ihm an, er hatte genug von der Leiche und wollte diese Pflicht so schnell wie möglich hinter sich bringen. Das kam ihr entgegen.

Gellen Dunes

„Sie haben die Leiche nicht ausgezogen“, stellte sie fest. „Wollen Sie uns dabei helfen? Und es würde mich freuen, wenn Sie uns auf jede noch so unbedeutende Merkwürdigkeit aufmerksam machen. Ich garantiere ihnen, wir wollen das hier nicht unnötig in die Länge ziehen. Von unserer Sorgfalt hängt die ganze weitere Ermittlung ab.“
Sie legten los. Papageorgiu protokollierte die Prozedur mit klammen Fingern auf seinem Klemmbrett. Der Doktor und Treder entkleideten sachte und Stück für Stück den Toten. Die Totenstarre begann bereits einzusetzen und erschwerte die Prozedur zusätzlich. Melanie kontrollierte jedes Teil und gab ihre Bemerkungen zu Protokoll. Und der Polizeimeisteranwärter tütete schließlich alles sorgfältig ein und beschriftete die Asservate. Nachdem der Mann nackt war, untersuchte der Doktor ihn Zentimeter für Zentimeter. Er bestätigte erneut, dass alle gut durchbluteten Körperteile wegen ihrer Schwellungen auf ein Toxin und keinesfalls auf Tod durch Ertrinken, hinwiesen.
„Können Sie Genaueres zum Gift sagen?“, fragte Melanie.
„Nein, beim besten Willen nicht. Ich bin kein Pathologe oder gar Rechtsmediziner. Ich könnte spekulieren – was ich nicht mache. Ich konnte keine Einstichstellen oder auffällige Hautveränderungen feststellen, das wird sicher nochmal überprüft werden. Ich rate Ihnen, die Untersuchung so schnell wie möglich zu veranlassen. Es gibt viele Gifte, die sich nach kurzer Zeit kaum noch nachweisen lassen. Ich gehe zum jetzigen Zeitpunkt davon aus, dass er das Gift oral zu sich genommen hat, bin da aber keineswegs sicher. Außerdem muss der Tod relativ schnell eingetreten sein. Schätzungsweise innerhalb von Minuten, längstens einer halben Stunde. Tödliche Lebensmittelvergiftungen dauern länger. Der Mann ist trotz seines Alters in einem sehr guten Gesundheitszustand gewesen. Eigentlich ein Jammer, der hätte noch gut vierzig Jahre gemacht.“
Melanie fragte: „Wie lange ist er tot?“
Der Doktor antwortete: „Ganz genau kann ich das nicht sagen, er hat zum Teil im Wasser gelegen und war etwas vom Schnee bedeckt. Ich habe Wassertemperatur, Körpertemperaturen und Umgebungstemperatur genommen. Sie haben ja selbst gemerkt, dass die Totenstarre voranschreitet. Ich hab die Muskeln der Hand gebrochen und die Zeit genommen. Die Rechtsmedizin wird das genauer eingrenzen können. Ich würde sagen, er ist vermutlich zwischen Mitternacht und ein Uhr gestorben.“
„Wie lange dauert eigentlich ein Tod durch Kugelfisch“, fragte Treder unvermittelt den Arzt, ohne auf die Blicke von Melanie zu achten.
„Keine Ahnung, mit Sicherheit länger als eine halbe Stunde“, antwortete der Arzt stoisch.
Papageorgiu blickte irritiert von seinem Klemmbrett auf. „Hab ich irgendwas verpasst?“, fragte er.
„Nein nein, ich wollte nur alles ausschließen, was auszuschließen geht“, antwortete Treder.
Draußen wurden Stimmen laut. Der Leichentransport war da. „Lassen Sie die Leute rein, wir sind hier fertig“, wies Melanie Treder an. „Haben Sie ein paar jugendfreie Fotos von dem Toten gemacht, die wir hier rumzeigen können?“, fragte sie Papageorgiu. „Ja, ich denk schon.“ Der Polizist wandte sich an seinen Kollegen: „Henry, geh bitte in die Dienststelle und druck uns ein dutzend Bilder vom besten und am wenigsten verstörenden Foto aus. Ernsthaft jetzt, ich will die auch beim Edeka hinter die Kasse klemmen. Wenn das zu leichenmäßig aussieht, dann hilf mit Photoshop nach. Wichtig ist, dass man die Person erkennen kann.“
„Alles klar Chef, ich geh dann mal drucken.“
„Halt, Moment noch“, hielt Melanie ihn zurück, „sagen sie unserem Boot Bescheid, dass es länger dauern wird. Sie sollen zurück nach Stralsund fahren. Wir nehmen uns ein Zimmer hier.“

Church, Kloster, Inside

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