Kapitel 18 – Mütterberatung

Melanie Veit, Rostock, 6. Februar 2004

Melanie und Charlotte verließen die Insel in aller Frühe. Vor Sonnenaufgang erreichte das Polizeiboot Stralsund. Ohne Zeit zu verschwenden, setzen sie sich in den Dienstwagen und brausten nach Rostock. Melanie hatte sich im Godewind ein Lunchpaket mit einer großen Thermoskanne mit süßem Kaffee machen lassen. Sie wollte keine Zeit auf Raststätten verschwenden.

Stralsund

Raststätten an deutschen Autobahnen hatten für Melanie etwas Traumatisierendes. Als Heranwachsende war sie, wann immer es die Zeit ihr erlaubte, nach Berlin getrampt. Oft alleine. Und nicht alle Touren verliefen ohne Zwischenfälle. Sie wusste sich zu wehren und es kam deshalb nie zum Äußersten. Dennoch geriet sie in grenzwertige Situationen. Was für ein Wahnsinn, dachte Melanie heute. Ihre größte Angst damals waren nicht die Vergewaltiger, sondern die allgegenwärtige Stasi. In der Rückschau konnte sie ihre Realitätsverzerrung kaum fassen. Vielleicht war es seinerzeit wirklich ungefährlicher. Sie zweifelte daran. Damals fuhren deutlich mehr Menschen per Anhalter. Es war wie FKK … im weitesten Sinne. Ein stiller, kaum wahrnehmbarer Protest. Seht her, ich steh nackt vor euch und ihr könnt mir nichts mehr nehmen! Oder: Seht her, ich habe mich nie für ein Kackauto in eine zwanzig Jahre währende Schlange eingereiht – behaltet eure sauren Trauben und erstickt dran! Tatsächlich, so naiv war sie damals. Erst später hatte sie begriffen, dass auch ihre IMs nackt badeten und lieber Zug fuhren oder trampten. Alle von denen fuhren per Anhalter mit ihr nach Hiddensee. Hörten den gleichen Bands zu. Erzählten sich am illegalen Lagerfeuer die ewig gleichen Geschichten, die sie auf den Tramptouren nach Bulgarien erlebt hatten. Und wahrscheinlich träumten sie alle den gleichen Traum von einem glücklichen Leben in einer kleinen warmen Welt. Warm und muffig. Melanie öffnete das Fenster. Ihr war übel. Diesmal hatte sie der Blues fest im Griff. Sie kannte das schon. Danach würde eine Welle der Aggressivität über sie hinweg schwappen. Dieses Hiddensee zerrte an ihren Nerven. Sie beschloss, etwas dagegen zu tun.

Rostock

„Sind sie auf Hiddensee geboren“, fragte Melanie Charlotte, um ein wenig Small Talk bemüht.
„Fast. Hätte beinahe geklappt. Aber meine Mutter fand es kurzfristig doch besser, mit geplatzter Fruchtblase nach Stralsund überzusetzen, um mich dort im Krankenhaus zur Welt zu bringen. Geburtsort: Vitte, ist ein seltener Eintrag in Geburtsurkunden. Aber wir sind nach wenigen Stunden wieder zurück. Meine Mutter hatte wohl Autoritätsprobleme mit der Mütterberatung. Den Trip in die Hansestadt hätten wir sparen können. Das hätte der Inselarzt, trotz nachgesagten Alkoholproblem, auch hinbekommen. Ich bin ziemlich robust – wissen Sie?“
Daran zweifelte Melanie keine Sekunde. Die junge Frau hatte zwar eine zarte Statur, aber ihr gesamter Habitus signalisierte das genaue Gegenteil.
„Und weil Sie so robust sind, haben Sie sich ins Orchideenfach Sinologie eingeschrieben – oder?“, griff Melanie den Faden eines früheren Gesprächs wieder auf.

Rostock

„Touche! Nein, so war es nicht. Es gibt eine Familientradition. Wir sind eine ziemlich merkwürdige Familie, wissen Sie. Die Dynastie wurde durch meinen Ur-Uropa Hans gegründet. Das war der letzte Mann in der Reihe meiner Ahnen. Meine Uroma Josephine war die letzte ehelich geborene Verwandte. Tja und die wurde in der deutschen Kolonie Qingdao, damals noch Tsingtau, geboren. Die Hinrichs gebären nur Töchter. Und alle, so wie auch ich, lernen ab der Geburt Chinesisch. Da liegt ein Sinologiestudium ziemlich nahe. Ehrlich gesagt, habe ich das Studium mit dem halben Hintern abgerissen. Da ging es nur um den Schein. Irgendwann werde ich vielleicht mal promovieren. Mit vierzehn habe ich die ersten Übersetzungen für einen Verlag gemacht. So als Ghostwriter für meine Mutter, die sich gelegentlich ja auch mal um die Pension kümmern musste.“
„Sie sind alle ohne Väter aufgewachsen?“ Melanie war fasziniert.
„Jep. Wir Hinrichs sind ein echter Weiberverein. Wussten Sie eigentlich, dass es in China noch matriarchalische Minderheiten gibt? Die Naxi zum Beispiel. Wenn die Frauen einen Mann oder Vater für die Kinder haben wollen, dann holen sie sich den ins Haus. Wichtige Entscheidungen werden durch die Mütter getroffen. Die Männer kümmern sich um den Haushalt und die Erziehung. Arbeiten, im Sinne von Geld verdienen, tun nur die Frauen. Wenn das mit der Ehe nicht so klappt, schicken sie den Mann zurück zu seiner Mutter.“
„Ich habe davon gehört“, sagte Melanie, „aber ich dachte, das ist eine Urban Legend. Und Sie haben sich gemäß der Tradition vorgenommen, nicht zu heiraten?“
„Na ja. Diese Tradition ist eher zufällig entstanden. Es gibt keinen feministischen Hinrichs-Kodex. Obwohl das natürlich ‘ne coole Idee wäre. Ich habe nichts gegen Männer in meinem Leben. Aber ganz ehrlich, heiraten ist so was von 20. Jahrhundert. Meine Uroma Josephine wurde 95 Jahre alt, ihre Mutter Lisa 93 und meine Oma Anne bekommt gerade ein Hörimplantat in der Rostocker Uniklinik. Wir werden immer älter und bleiben im Alter aktiv. Meine Ur-Uroma Lisa hat sich nach dem Tod ihres Mannes die letzten fünfzehn Jahre ihres Lebens mit einer gleichalten Frau, einer Einquartierung aus Schlesien, geteilt. Sie hatten ein gemeinsames Bett. Das ist länger, als heute die meisten Ehen halten. Können Sie sich vorstellen, die ganze Zeit nur mit einem Partner zusammen zu sein? Also ohne sich zu gruseln, meine ich.“
Melanie lachte. Charlotte gefiel ihr. Sie dachte ähnlich. Aber es gab einen Punkt, der immer mehr in den Mittelpunkt rückte. Sie wollte im Alter nicht alleine sein.

Rostock

Sie fuhren zuerst zur Rechtsmedizin. Eine Identifizierung des Toten war durch die Zahnarztunterlagen erfolgt. Sowie die Fähren wieder fahren, müsste die Ehefrau die Identität abschließend bestätigen. Aber das hatte Zeit. Melanie war froh, dass die Thomas auf der Insel festgenagelt war. Charlotte ging solange in die Kröpeliner, die Bummelmeile der Rostocker, um einen richtigen Kaffee zu trinken, wie sie sagte. Kaffee mit Zucker und ohne Milch mochte sie nicht, wusste Melanie nun. Sie hatten sich im Alex zwischen Marienkirche und Neuem Markt verabredet.

Rostock

„Hallo Doc, haben Sie was für mich?“, begrüßte Melanie den Rechtsmediziner.
„Ihnen auch einen schönen Tag, Frau Veit. Sie sind aber früh dran – Hubschrauber?“
„Ja, steht im Hof. Bin selbst geflogen“, antwortete Melanie. „Sie wissen ja, der frühe Vogel fängt den Fisch oder wie das heißt.“
„Na gut, alles klar. Dann gehen wir mal ins Büro. Es gibt nichts wirklich Neues, aber wir haben über die Mordwaffe nachgedacht. Ich habe da was vorbereitet“, sagte der Doktor.
Auf dem Bildschirm war die 3D-Ansicht eines Gegenstandes zu sehen, der einer Haarbürste ähnelte. Wenn man mal von dem Abzug absah.
„Was ist das denn?“, fragte Melanie.
„So stellen wir uns das Tatwerkzeug, vor. Es gibt Vorbilder aus dem alten China. Ein paar antike Abbildungen finden Sie im Internet, wenn Sie eine Weile danach suchen. Allerdings gibt es nur Zeichnungen und die sind schon mehrere hundert Jahre alt. Ob so ein Gerät wirklich je gebaut wurde, war bislang nicht klar. In unserem Fall haben wir es jedoch nicht mit einer antiken Mordwaffe zu tun. Und bevor Sie fragen, wir haben in keiner einzigen zugänglichen Datenbank auf diesem Planeten einen Hinweis auf einen ähnlichen Fall gefunden. Wie ich schon am Telefon sagte, wurde das Gift über eine Kanülenmatrix mit hohem Druck injiziert. Die Matrix besteht aus 11 x 16 Kanülen. Die Röhrchen sind sehr fein. So etwas kann man noch nicht lange herstellen. Die Fläche des Bürstenkopfes beträgt 44 mm x 64 mm. Wir haben die Kopfhaut mit unseren besten Geräten digitalisiert. Auf dem Bildschirm sehen Sie jetzt, wie das Gift über die Nadeln eingespritzt wurde. Fällt ihnen was auf?“
Melanie sah sich die Animation an. Der Bürstenkopf wurde in die Kopfschwarte eingeschlagen. Dann spritzten alle Kanülen gleichzeitig und, mit gleicher Intensität, eine blaue Flüssigkeit in die Haut. Dabei bildeten sich kleine Kanäle, die fast bis zum Knochen reichten. Die Animation hatte eine Ästhetik, der sich Melanie nicht entziehen konnte.

Rostock

„Ein Ballett des Todes“, sagte sie mehr zu sich selbst.
„Genau! Alles ist choreografiert. Nach unserer Simulation stand hinter jeder Kanüle der exakt gleiche Druck. Das ist keineswegs einfach. Stellen Sie sich ein 176-läufiges Gewehr vor, bei dem jede Kugel mit der gleichen Geschwindigkeit und beinahe zur gleichen Zeit herauskommt. Wenn Sie das rein mechanisch lösen wollen, müssen Sie sich schon anstrengen. Moderne Tintenstrahldruckköpfe entsprechen diesem Ding am ehesten, wenn man mal die hohe mechanische Belastung weglässt. Piezokristalle können diesen Druck nicht aufbauen …“
„Okay, okay, okay, stopp! Die ganze Wissenschaft dahinter muss ich nicht verstehen. Wer kann so eine Waffe bauen? Und warum so schrecklich kompliziert?“, fragte Melanie.
„Erste Frage: keine Ahnung. Zweite Frage: dito. Der Druck wurde vermutlich durch Pressluft aufgebaut. Und der betrug, genau wie bei Quallen, ca. 140 bar. Es sieht so aus, als wenn da einer den Nesselmechanismus von Quallen nachgebaut hat. Vielleicht war das gar nicht als Mordwaffe gedacht? Wir sollten uns besser auf den Terminus Tatwerkzeug einigen. Wenn Sie wünschen, kontaktiere ich die genannten Institute und konfrontiere sie mit unserem Fund?“
Melanie dachte darüber nach. Wenn aus einem der Institute dieses Ding entwendet wurde, könnte das zum Mörder führen. Die Entscheidung darüber überstieg ihre Kompetenzen. Sie würde telefonieren müssen.

Rostock

Melanie sagte: „Danke, Doktor. Ich komm darauf zurück. Vorher muss ich mir die Erlaubnis für ein solches Amtshilfeersuchen einholen. Mache ich das nicht, kann ich vor ihrem Fenster Knöllchen verteilen. Und das wollen wir ja beide nicht – oder?“
„Ach, wenn Sie mich so fragen, Sie in Uniform und ständig in Sichtweite …“
„Alles klar Doktor, ich habe mir ihre Neigungen notiert.“ Sie lächelte ihn an. „Was Sie schon mal machen könnten, wäre, dieses Ersuchen vorzubereiten. Ich meine, inklusive Anschreiben auf Englisch und so. Ich kann mir gut vorstellen, dass da jemand drüber schauen möchte. Außerdem brauche ich einen Ausdruck von dem Ding da, inklusive der … nun ja … technischen Daten.“

Sie ließ das Auto auf dem Parkplatz der Rechtsmedizin stehen und ging den kurzen Weg zum Neuen Markt zu Fuß. Melanie musste ihr Hirn durchlüften. Auch das Tatwerkzeug hatte einen Bezug zu China. Das war eine echte Konstante in diesem Fall. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass jemand ein derart kompliziertes Ding baute, nur um jemanden zu vergiften. Da gibt es doch unendlich viele und Jahrtausende lang erprobte Methoden. Der Hinweis auf ein Laborgerät erschien ihr plausibel. Es konnte auch nicht schaden, ihrer jungen Sinologin auf den Zahn zu fühlen. Charlotte saß in dem vereinbarten Café neben dem Eingang am Fenster. Neben dem Tisch war eine Kinderspielecke eingerichtet. Es spielte zwar kein Kind dort, doch der Tisch war eingezingelt von Sportkarren. Der Lärmpegel war entsprechend. Als Ausgleich hatten sie die ganze Fensterfront mit Blick auf das Rathaus für sich allein. Die kinderlosen Gäste saßen weiter hinten und die Mütter hatten ihre eigenen Themen. Sie waren ungestört. Die Kellnerin kam schnell, nahm die Bestellung auf und verschwand wieder mit der gleichen Eile. Wahrscheinlich hatte sie Angst, dass eines der herumkrabbelnden Kinder sie zum Mitspielen animieren wollte. Charlotte hatte wieder ihr leicht spöttisches Gesicht aufgesetzt.
„Toller Platz“, sagte Melanie.

Rostock

„Ja ne? Super Ausblick und die Bälger werden uns nicht stören. Ich habe vorhin schon mal meinen bösen Blick ausprobiert. Hat geklappt. Wie war es in der Morgue?“
„Leiser als hier“, sagte Melanie. „Es war interessant. Ich habe was über Tintenstrahldrucker gelernt.“
Charlotte sah sie irritiert an: „Ist Reg Thomas von einem Drucker erschlagen worden?“
„Nein“, sagte Melanie, „eher von einem Druckkopf.“ Melanie sah ihr an, dass sie nicht mehr folgen konnte. „Im Ernst, schauen Sie sich mal dieses Ding hier an. Es soll aus China kommen. Haben Sie sowas schon mal gesehen?“
Charlotte nahm die Zeichnung und schüttelte den Kopf. Melanie glaubte ihr, dass sie das Gerät noch nie gesehen hatte. Doch beim zweiten Blatt, den technischen Daten, zog Charlotte ihre Augenbrauen in die Höhe.
„Irgendwas nicht in Ordnung?“, fragte Melanie.
„Das ist die Mordwaffe – richtig?“
Melanie antwortete: „So oder so ähnlich. Das ist nur eine Vermutung, die wir aus verschiedenen Parametern abgeleitet haben.“
„Schon klar, aber die Nadeln und so. Die haben Sie ja gezählt und die Stiche gesehen – richtig?“, fragte Charlotte.
„Ja, die Nadeln, die Anordnung, Eindringtiefe und so weiter, das sind die Parameter, auf denen diese Phantomzeichnung fußt. Was sehen Sie da, Charlotte?“

Rostock

„Es ist etwas kompliziert. Ich fang mal so an: Wie in unseren kargen Wüstenreligionen oder den etwas freundlicheren Religionen Indiens, so gibt es auch in den ursprünglichen Religionen Chinas eine komplexe Zahlenmystik. Bestimmte Zahlenkombinationen haben manchmal ganz konkrete Bedeutungen. Denken Sie an die 7, die 13 oder die Zahl des Tieres 666. In China gibt es in vielen Hotels keinen 4. Stock. Weil die Zahl vier wegen ihres Klanges mit dem Tod assoziiert wird. Umgekehrt ist der 8. Stock sehr beliebt, weil acht eben Glück bedeutet. Das mal so als Einstieg. Telefonnummern oder Autokennzeichen mit vielen Achten sind in China unerschwinglich. Es ist in Wirklichkeit noch viel komplizierter. Oder die Triaden zum Beispiel. Wie der Name schon sagt, basieren sie auf der Zahl Drei für Himmel, Erde und Menschheit beziehungsweise Verständnis, Weisheit und Kraft als Zeichen des Drachen. Viele andere chinesische Geheimgesellschaften sind nach solchen Zahlen organisiert. Und wenn Sie genau hinschauen, finden Sie diese Fixierung auf bestimmte Zahlen sogar im heutigen kommunistischen China. Mit der Zeit entwickelt man so einen Blick für Zahlen, wenn es um was Chinesisches geht. So, und nun nehmen Sie mal die Maße und zerlegen sie die in die bekannten Zahlen. 44 ist klar, zweifacher Tod. 64 hat zwar eine eigene Bedeutung, ist aber das Produkt von 8×8. Sie haben 176 Kanülen, das sind genau 2 x 88. Kann alles Zufall sein. Wenn Sie oder irgendein Westler so ein Gerät bauten, dann wäre es das auch – ein Zufall. Wenn ich oder ein Chinese das täte, dann wäre das niemals im Leben zufällig. Falls das Ding als Mordwaffe geplant war, dann hat derjenige einen umwerfend morbiden Humor. Ich an Ihrer Stelle würde nicht von einem Zufall ausgehen.“

Pathologie Rostock

Melanie stöhnte innerlich auf. Esoterik konnte sie von allen menschlichen Spleens am wenigsten leiden. Schwurbler nahm sie nicht ernst. Es reichte schon die Andeutung eines Kollegen, wie „ich hab da was Homöopathisches gegen deinen Schnupfen“, und schon betraute sie ihn nicht mehr mit verantwortungsvollen Aufgaben. Die Weibchen ihrer ehemaligen Collegen im anderen Leben, gehörten zu dieser Spezies. Melanie verachtete sie fast noch mehr, als deren karrieregeile Alphamännchen. Auf der Habenseite stand, dass diese Spinner, außer gegen sich selbst, fast nie zu einer Gefahr für andere wurden. Fast! Sie sah vor ihrem inneren Auge einen esoterischen und mechanisch begabten Psychopathen über Hiddensee schleichen. Morden nach Zahlen.

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