Kapitel 17 – Friedemann

Josephine Hinrichs, Berlin, Juli 1954

Josephine wartete mit ihrer sichtbar schwangeren Tochter Anne in der Blumenstraße, Ecke Lichtenberger. Sie konnten die Delegation gut sehen. Li Li und Henselmann folgten der Gruppe um Zhou Enlai und Friedrich Ebert. Hermann Henselmann nutzte zum Erzählen den gesamten Körper. Alle zwei Sekunden strich er sich seine Locken aus dem Gesicht. Offensichtlich hatte er in Li Li einen aufmerksamen Zuhörer gefunden. Neben Li ging der junge Meyerfeld und hörte den beiden aufmerksam zu. Josephine war jedes Mal überrascht, wenn sie Ähnlichkeit der beiden Meyerfelds sah. Das ist mir ein rechter ewiger Wanderer, dachte sie. Li Li entdeckte die beiden Frauen an der Straßenecke. Er winkte ihnen lächelnd zu. Eine ganze Anzahl Schutzpolizisten schirmte den offiziellen Staatsbesuch aus China ab. Das war den Hinrichs-Frauen egal.
Sie würden sich heute Abend, alle zusammen und mit Netty, in einem kleinen Hotel in Karlshorst in der Godesberger Straße treffen. Eins der wenigen Hotels in Berlin, die den Krieg unbeschadet überstanden hatten.

Zentralbild Heilig 24.7.1954 Besuch des Ministerpräsidenten und Ministers für Auswärtige Angelegenheiten der Volksrepublik China Tschou En-lai in Berlin. 2.Tag. Besuch in der Stalinallee UBz: Der Ministerpräsident und Minister für Auswärtige Angelegenheiten der Volksrepublik China, Tschou En-lai wird beim Verlassen des Hochhauses am Strausberger-Platz von den Straßenpassanten herzlich begrüßt. (Rechts im Vordergrund) Der Oberbürgermeister von Groß-Berlin, Friedrich Ebert, (dahinter) der Chefarchitekt von Berlin, Nationalpreisträger Professor Dr. [Hermann] Henselmann.

Das letzte Mal trafen sie sich dort vor vier Jahren anlässlich der Beerdigung von Hans. Li Li hatte eine bewegende Rede gehalten. Viele weinten laut, manche leise. Doch nach ein paar Stunden mit den Freunden und vielen Geschichten aus den wilden Zeiten, gingen sie mit einem Lächeln wieder ihrer Wege. Käthe Miethe, die etwas älter als Josephine war, gehörte mittlerweile zu den besten Freundinnen. Sie saß auf der Trauerfeier direkt ihr gegenüber. Neben Käthe saß Margarethe Paluka(42), ebenfalls in ihrem Alter und regelmäßig auf Hiddensee. Gelegentlich streiften sie als Trio Infernale über den Dornbusch. Es war gut, die Freunde zu treffen. Die Trauer war kleiner geworden. Selbst Lisa lächelte ab diesem Tag wieder. Josephine hatte sich große Sorgen um sie gemacht und Li Li davon berichtet. Über 50 Jahre waren die beiden gemeinsam durch ein ungewöhnliches Leben gegangen. Josephine befürchtete, dass die Mutter aufgeben würde. Doch das war falsch. Nicht zuletzt durch Lis und Josephines Bemühungen fand sie ins Leben zurück.
Nun genoss Lisa jeden Tag auf Hiddensee. Sie hätte sie gerne nach Berlin begleitet. Doch mit ihren sechsundachtzig Jahren wollte ihr keiner mehr die lange und beschwerlich gewordene Reise nach Berlin zumuten. Li Li hatte ihr fest versprochen, sie auf der Insel zu besuchen. Und wenn Li etwas versprach, das wusste Lisa, würde er es halten.


Sie trafen sich wie verabredet am Abend in dem Hotel in Karlshorst. Netty brachte eine Freundin mit. Hu Lanqi(43) gehörte schon seit 1920 zu den Drei Siegeln. Netty und Lanqi wurden 1933 in derselben Nacht verhaftet. Doch die Chinesin verbrachte im Gegensatz zu Netty ganze drei Monate im Gefängnis der Nazis. Sie konnte schließlich über einen kurzen Aufenthalt in Frankreich und dann England nach China ausreisen. Sun Wens Witwe beschwerte sich persönlich beim deutschen Konsul in Schanghai. Sehr lautstark, wie sich Li Li erinnerte, der sie mit dem damals bekannten Dichter Lu Xun begleitet hatte. Auch ein deutscher Konsul wagte es nicht, sich gegen den Geist von Sun Wen zu stellen. Josephine war nur ein Jahr älter als Hu Lanqi. Sie schlossen sofort Freundschaft. Netty erfuhr irgendwann von Li Li, dass sie und Hu Lanqi Schwestern im gleichen Bund waren. Schwestern in der Bruderschaft. Die beiden Frauen amüsierten sich über die verstaubte Nomenklatur. Irgendwann sollte ein neues Wort für die Mitglieder in dem uralten Geheimbund gefunden werden. Doch bis dahin würde viel Wasser dem Jangtse hinabfließen. Hu Lanqi war im Bürgerkrieg bis zur Generalmajorin aufgestiegen, doch nun übernahmen wieder die Männer die Geschäfte. Im Osten wie im Westen. Zwar stellte sich die Bruderschaft mit ihren subtilen Methoden gegen diesen Trend, doch die Möglichkeiten für Frauen wurden weniger. Hinzu kam, dass ein Jahr zuvor die chinesischen Kommunisten um Mao Zedong beschlossen hatten, Geheimgesellschaften zu verbieten. Ein unsinniges Gesetz. Und es funktionierte nicht. Es diente viel mehr dazu, sich unliebsame Konkurrenz im Kader vom Hals zu schaffen. Allein der Verdacht, in einer Geheimgesellschaft Mitglied zu sein, reichte, wenn man jemanden aus dem Weg haben wollte. Hu Lanqi war bereits mit den selbsternannten Gralshütern in Konflikt geraten.

Hu Lanqi in Berlin
Generalmajorin Hu Lanqi
Hu Lanqi u.a. mit Nettis Tochter Ruth
Hu Lanqi und Anna Sehgers

Auch Margarethe war wieder mit dabei. Sie saß wie bei der Trauerfeier zusammen mit Netty und Käthe auf der anderen Seite des Tisches gegenüber von Josephine. An der einen Stirnseite saß Li Li an der anderen Anne, die wegen ihres Bauches viel Platz brauchte. Neben Josephine und Anne hatte der junge Meyerfeld – Friedemann Meyerfeld – Platz genommen. Er sah exakt so aus, wie sein Vater in dem Alter. Doch es war nicht nur das Aussehen, auch seine Bewegungen, Gesten – sein gesamter Habitus, ähnelten sich auf unheimliche Weise. Sie hatte in ihren vielfältigen Studien im chinesischen Siheyuan einmal etwas von der Parthenogenese gehört. Jetzt fragte sie sich, ob Männer auch zu dieser Form der Vermehrung fähig wären?
Li Li interessierte sich für Annes Pläne. Kriegsbedingt hatte ihr Studium etwas länger gedauert. Doch als frisch gebackene Ökonomin mit dem Nebenfach Sinologie standen ihr jetzt alle Wege im neuen Deutschland offen. Wenn da nicht die Schwangerschaft und das kommende Kind wären. Wie eine echte Hinrichs bügelte sie Li Lis Bedenken ab.
„Das Kind wird kein Hindernis auf meinem Weg sein. Ein Mann wäre schon eher eins. Ich habe konkrete Pläne. Die meisten Aufgaben kann ich von Hiddensee oder Rostock erledigen. Es wird die Zeit kommen, wo der Wohnort in der Arbeitswelt keine Rolle mehr spielen wird. Ich fang damit schon mal an“, sagte Anne.
„Ja“, sagte Li Li, „das hätte deine Mutter ganz genau so formuliert. Wusstest du eigentlich, dass sie mal wie Marie Curie werden wollte? Aber ernsthaft jetzt, leicht wird das alles nicht. Du sollst nur sicher sein, dass du unser aller Unterstützung haben wirst. Ohne Belehrung, ohne Zeigefinger … weißt schon.“

Josephine dachte an die letzten Jahre zurück. Sie hatten überlebt. Wie Meyerfeld vorausgesagt hatte, lagen die Städte in Schutt und Asche. Das Mosse-Palais war verschwunden. Sein Gewölbe lag voller Trümmerschutt. Das Geschäft in der Lagerstraße in Rostock überstand wie durch ein Wunder alle einundzwanzig Bombenangriffe auf die Stadt, doch ringsherum blieb kein Stein auf dem anderen. Guter Wein war jetzt weniger gefragt. Selbst Hiddensee wurde vom Krieg heimgesucht. In den ersten Maitagen besetzten die Sowjets die Insel. Bei den Hinrichs waren mehrere Offiziere einquartiert. In deren Kommandantur hatte sich schnell herumgesprochen, dass die Insel ein idealer Platz war, an dem man der Gegenwart entfliehen konnte. Es gab bei ihnen keine Plünderungen. Das war nicht überall auf der Insel so. Dennoch kamen ein paar Sachen weg. Nicht aus dem Haus, aber die Hinrichs hatten, um Platz zu gewinnen, viele ihrer Mitbringsel aus China und entbehrliche Gegenstände im Stall gelagert. Dort stand ihr einziges Fuhrwerk, das sie mangels Pferden eingemottet hatten. Aus diesem Lager kamen hin und wieder Sachen weg. Sie erkannten das an den zurückgerissenen Abdeckplanen und aufgebrochenen Kisten. Die Hinrichs machten sich nicht viel daraus. Es gab andere, dringendere Probleme. Die Dinge im Schuppen hatten für sie im Moment keinen Wert. Meist waren es Kleinigkeiten, die verschwanden: Sammelteller oder -tassen, Besteck, Kitsch aus China, Wäsche usw. Das ließ sich auf dem schwarzen Markt schnell umsetzen. Mancher Verlust wog schwerer und würde sich nur schwer verflüssigen lassen, darunter das Boshanlu aus dem Besitz der Kaiserinwitwe Cixi, das sich irrtümlich in den Kisten auf dem Fuhrwerk befand.
Es gab zu der Zeit kaum Flüchtlinge auf der Insel und die, die hier waren, behielten die Insulaner unter ihrem misstrauischen Blick. Josephine vermutete, dass die Diebe von der Insel selbst kamen. Sie hatte den Besitzer einer Kneipe in Kloster in Verdacht. Sehr oft hatte sie den Wirt um das Siheyuan herumschleichen sehen. Jetzt, wo die Touristen, Künstler und Sommerfrischler ausblieben, war es um die Gastronomie nicht gut bestellt. Auch die Hinrichs waren von der wirtschaftlichen Misere betroffen, wenn auch nicht so heftig wie die, die keine andere Einnahmequelle hatten. Die Verlagstantiemen von Hans, Lisa und Josephine wurden zum Teil in Lebensmittelmarken oder sogar direkt in Naturalien ausgezahlt. Hinzu kam, dass ihr eigentlich zu großer Garten, nun als Acker zur Verpflegung beitrug. Die Hinrichs mussten keinen Hunger leiden. Das Glück hatten nicht alle auf der Insel. Auch wenn Josephines Verdacht bezüglich der Diebstähle sehr konkret war, dachte sie nicht mal im Traum daran, diese bei den Russen oder irgendeiner anderen Autorität zu melden. Irgendwann, wenn die Zeiten besser waren, würde sie mit den Wirtsleuten sprechen und die Sache leise aus der Welt schaffen.

Anfang der 50er kamen endlich auch wieder Touristen und mit ihnen die Künstler auf die Insel. Josephine glaubte zwar nicht an eine Wiederbelebung der Künstlerkolonie, doch ein bisschen von dem Flair war schon angekommen. Doch Josephine hatte sich zu früh gefreut. Zu Silvester 1952/1953 kam der alte Meyerfeld mit seinem Sohn Friedemann zu ihnen in die Pension.
„Hört mal zu“, begann Meyerfeld, „es gibt leider einige ungute Signale aus unserer geliebten Staatsführung, die euch direkt betreffen können. Das ist kein Gerücht, weshalb ich auch sofort hierherkommen musste, um zu handeln. In ein paar Wochen sollen alle Hotels, Pensionen, Restaurants an der Ostseeküste zwangsverstaatlicht werden. Das ist noch nicht mal das Schlimmste. Es sollen auch die Besitzer kriminalisiert und dann vertrieben oder eben eingesperrt werden. Ich könnte jetzt weit ausholen, warum und wer sich den Quatsch ausgedacht hat, aber das bringt im Moment nichts. Li Li und ich haben daher beschlossen, euch jetzt und hier zu verstaatlichen. Keine Angst, es bleibt natürlich alles beim Alten. Auf dem Papier jedoch machen wir eine Übertragung direkt an eine Abteilung in der Regierung, die ich beziehungsweise mein Sohn einigermaßen kontrollieren. Das Siheyuan ist nach der Unterschrift ein FDGB-Vertragsobjekt. Die Zeiten werden sich wieder ändern, darauf gebe ich euch mein Wort, und dann wird alles rückübertragen. Damit das auch dann rechtlich abgesichert ist, wenn es keinen Meyerfeld mehr geben sollte, habe ich zu dieser Eigentumsübertragung ein geheimes Zusatzprotokoll verfasst. Dies klärt die Umstände der Übertragung und regelt die schadlose Rückübertragung.“
Josephine war außer sich vor Ärger. Die junge DDR jagte zurzeit eine Sau nach der anderen durch die Dörfer. Die gleichen Kampagnen wurden zum Teil schon Jahre zuvor in der Sowjetunion im besten Falle erfolglos, aber meist mit katastrophalen Folgen ausprobiert. Lisa und Meyerfeld beschwichtigten sie. Meyerfeld hatte ihnen einen gangbaren Weg gezeichnet, dem sie folgen würden. Doch sie machten sich Sorgen um die anderen Gastronomen auf der Insel. Wie sollten sie denen die drohende Gefahr erklären, ohne selbst ins Messer zu laufen?
Meyerfeld hob die Hände: „Bitte, haltet euch da ganz raus. Es gibt ein paar Leute, auch hier auf der Insel, die Warnungen verteilen. Das wird zwar nichts an dem grundlegenden Problem ändern, die Leute verlieren ihren Besitz, aber vielleicht kann man so Schlimmeres verhindern. Meine ganz persönliche Prognose ist, dass sich so einige Hoteliers in den Westen aufmachen werden.“
Am Neujahrsmorgen radelte Josephine nach Kloster zu den Reeschs und plauderte völlig unverbindlich von den Gerüchten einer angeblichen Geheimaktion gegen Kneipiers auf Hiddensee. Und dass es besser sei, demnächst nichts Illegales im Hause zu haben – nicht mal mehr Lebensmittel, als laut Karte möglich wären.

Josephine schrak zusammen. Der alte Meyerfeld hatte ihr auf die Schulter geklopft.
„Darf ich mich setzen, junge Frau?“
„Na ja, junge Frau!“ … „Hast du heut noch was vor?“, fragte er.
Klaus Meyerfeld war ein Jahr älter als Hans. Doch trotz seines hohen Alters hatte er noch immer einen messerscharfen Verstand und auch körperlich sah man ihm dieses Alter nicht an. Um die siebzig schätzen ihn die, die Klaus Meyerfeld nicht kannten.
„Du warst so in Gedanken, da dachte ich, ich hol dich da mal wieder raus“, sagte Meyerfeld.
Auf der anderen Seite des Tisches gackerten Netty, Lanqi, Margarethe und Käthe. Offensichtlich hatten sie die Wirkung des Krim-Sektes unterschätzt. Das konnte noch lustig werden, dachte Josephine. Anne saß etwas abseits, nippelte an ihrer Waldmeisterlimonade und beobachtete fasziniert den vorübergehenden Verfall der vier großen Damen.
„Ach Klaus, ich habe überlegt, ob wir in dieser Achterbahn des Lebens gerade den Berg rauf oder schon wieder runterfahren. Bis zur Aktion Rose habe ich gedacht, es geht bergauf. Jetzt bin ich nicht mehr so sicher. Die Politik auf der ganzen Welt ist außer Rand und Band. Mir kommen die Protagonisten wie pubertierende Idioten vor. Egal, ob ich mir diesen Staat anschaue, die Schutzmacht im Osten oder, was mir besonders weh tut, China. Und im Westen gibt es – wie immer – nichts Neues. Nur bekloppte – überall.“
„Na ja“, beschwichtigte Meyerfeld, „so sieht es vielleicht aus, aber du solltest es besser wissen. Wir konnten immerhin verhindern, dass dieser Planet auseinanderfliegt. Wir werden immer mehr und wir werden auch immer besser. Vielleicht stehen wir vor dem ewigen Frieden in Europa. Unsere Analysten behaupten das. Das ist kein Naturgesetz. Ohne Arbeit werden wir diesen Status nicht erhalten, aber wir sind auf einem guten Weg. Und zu deiner Frage, da habe ich eine glasklare Antwort: Es wird jetzt ein paar Jahrzehnte aufwärtsgehen. Das kannst du auch mal Anne und später ihrem Kind vermitteln. Wir haben jeden Grund, optimistisch zu sein. Und ja, es wird wieder eine Zeit des Umbruchs kommen. Das muss nichts Negatives sein.“
„Solange ich dich kenne, haben deine Prognosen ins Schwarze getroffen. Meines Wissens lagst du nicht ein einziges Mal daneben. Wäre ich ein religiöser Mensch, würde ich jetzt einfach an deine Worte glauben. Das täte richtig gut. Aber das kann ich nicht – ich bin Skeptiker durch und durch. Trotzdem Danke für deine aufmunternden Worte.“
Sie lächelte Meyerfeld an und der wusste, dass sie sehr wohl an das glaubte, was er sagte – gut so!

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