Hans Hinrichs, Berlin, 1933
„Ein frohes Neues Jahr wünsche ich euch“, sagte Hans. Meyerfeld und Netty blickten auf.
Klaus Meyerfeld sagte: „Oh, wir haben dich gar nicht kommen sehen. Schleichst du dich neuerdings an?“
„Eher nicht, anscheinend seid ihr in den Politikteil des Berliner Tageblatts so vertieft, dass ihr nicht mal einen hereinkommenden Elefanten hören würdet.“
Netty sagte: „Ja, wir leben in interessanten Zeiten. Ich komme gerade aus dem Gefängnis. Meyerfeld hat mich abgeholt. Ob dieses Jahr froh wird, wage ich bei dem Start zu bezweifeln. Aber gut, ich wünsche dir auch ein schönes neues Jahr, mein lieber Hans.“
Hans war perplex: „Was meinst du mit Gefängnis?“
„Nun, unser neuer Kanzler hat es auf Leute wie mich abgesehen. Er hat mich über seine Staatspolizei von der Straße gefischt. Vermutlich hätte er mich liebend gerne in dem Loch verrotten lassen. Doch unser guter Freund Klaus hat das Problem auf seine Weise gelöst. Schließlich hatten wir ja heute einen Termin – oder Klaus?“
„Danke für die Blumen, Netty“, sagte Meyerfeld. „Ich gebe zu, es war mehr als ein Anruf nötig. Aber es war nichts, was zu diesem Zeitpunkt nicht lösbar gewesen wäre. Die Betonung liegt auf zu diesem Zeitpunkt, und damit sind wir auch schon beim Thema unseres Treffens.“
Der Kellner des Adlon kam und fragte nach der Bestellung. Hans bestellte: „Ich hätte gerne einen offenen Pouilly-Fume und ein Seelachs-Brötchen.“
„Dem schließe ich mich an“, sagte Meyerfeld.
Netty meinte: „Ich versteh nicht, wie man früh am Morgen schon Fisch essen und Wein trinken kann. Habt ihr das in China gelernt – ach, sagt lieber nichts. Für mich bitte einen Einspänner und dazu ein Kipferl.“ Der Kellner ging wieder. „Apropos Wein“, fuhr sie fort, „was macht deine Weingroßhandlung in diesen Zeiten? Kann sich überhaupt noch jemand Wein leisten, im beschaulichen Rostock?“
„Es läuft ganz ordentlich. Wir schreiben schwarze Zahlen, haben keine Kredite und die Kundschaft wird zahlreicher. Wenn auch nicht mehr ganz so zahlfreudig. Wir haben uns eine kleine Marktlücke mit den Importweinen aus exotischen Gegenden erschlossen. Kaum ein Mensch kennt australischen oder kalifornischen Wein. Die meisten wissen nicht, dass es dort Wein gibt. Meine deutschen Lieferanten würden mir zwar gerne ins Gesicht springen, aber wie gesagt, wir verkaufen mehr, als noch in den Zwanzigern. Außerdem erforsche ich gerade die Möglichkeit, Wein aus Westchina zu beziehen. Das ist ein uraltes Weinbaugebiet, welches schon die Etrusker genutzt haben. Blöderweise ist das gesamte Know-how der Herstellung abhandengekommen. Klimatisch ist diese Gegend ideal. Aber was soll‘s … Lasst uns zum Thema kommen.“
„Ganz in meinem Sinne“, sagte Meyerfeld. „Ich brauche nicht viele Worte über die Situation in Deutschland zu verlieren. Die meisten Leute meinen zwar, dass sich das alles wieder legt, aber über diese Brücke gehe ich nicht. Im Gegenteil. Wir sind der vorausgesagten Katastrophe ein gutes Stück nähergekommen. Netty und ihre Familie werden daher noch diesen Monat das Land verlassen. Lachmann-Mosse(38) wird ebenfalls auswandern. Im Moment sieht es so aus, als wenn sich die Deutsche Bank und weitere Akteure, den Besitz der Mosses inklusive Immobilien einverleiben wollen. Emil Georg von Stauß(39), Aufsichtsrat der Deutschen Bank und dicker Freund Görings, will sich den Brunnen aneignen und auf seinen mecklenburgischen Besitz schaffen lassen. Das würde zwar das Gewölbe nicht weiter stören, mal abgesehen davon, dass wir damit den Schlüssel weggeworfen hätten, gibt es noch ein weiteres Problem. Das Versteck ist unsicher geworden.“
Meyerfeld ließ sich mit der Fortsetzung Zeit und schaute Hans und Netty eindringlich an: „Alle Planspiele, Simulationen und Expertisen sagen einen Weltenbrand voraus. Das ist keine Metapher. Es sollen Waffen hergestellt werden, die das Zeug dazu haben, diesen Planeten zu einer Fackel zu machen. Weltweit arbeiten wir und viele andere Menschen daran, die ultimative Katastrophe zu verhindern. Doch auch, wenn die Welt nicht untergehen sollte, werden die Erschütterungen enorm sein. Die europäischen Städte werden in Schutt und Asche sinken. Was aus Berlin wird, mag ich mir gar nicht vorstellen. Nun wird auch klar, warum wir ein neues Gewölbe bauen müssen. Und zwar genau dort, wo der Brunnen hinkommen soll. Ich gehe mal davon aus, dass der alte Bismarck recht behält.“
„Wenn die Welt untergeht, so ziehe ich nach Mecklenburg, denn dort geschieht alles fünfzig Jahre später”, zitierte Netty. „Ist zwar Quatsch und wahrscheinlich nicht von ihm, aber tröstlich ist es doch.“
Meyerfeld wandte sich an Hans: „Dir möchte ich dringend raten, mit deiner Familie endgültig nach Hiddensee überzusiedeln. Ich halte Rostock nicht mehr für sicher. Und wenn ich es recht betrachte, seid ihr eh schon den größten Teil des Jahres dort. Josephine kann sehr gut von dort aus arbeiten. Den Kontakt mit ihren Verlagen wird Käthe Miethe(40) aus Althagen halten. Ich glaube, ihr kennt euch?“
„Ja klar, sagte Hans. Josephine arbeitet gelegentlich mit ihr zusammen. Wir kennen uns gut. Ich habe in Fotografiedingen den alten Adolph(41) ein paarmal besucht. Käthe hat mir einen Teil seines Nachlasses, so Fotodinge, mit denen sie nichts anfangen konnte, überlassen.“
Meyerfeld drang auf Hans ein: „Ich weiß, dass du an der Weinhandlung hängst. Du sollst sie auch nicht aufgeben. Ich möchte nur, dass du, wenn es knifflig wird, nicht in der Stadt bist. Du hast ordentliche Angestellte und einen tüchtigen Prokuristen. Delegiere ruhig mal ein wenig. Das Gleiche gilt für Josephine und die kleine Anne. Ihre Zweitwohnung in Dresden sollte sie aufgeben. Ich halte Sachsen für gefährdeter als Rostock. Anne kommt dieses Jahr zur Schule. Was die Dorfschule nicht leisten kann, werden wir in altbekannter Art organisieren. Baut das Pensionsgewerbe aus. Um die nötigen Genehmigungen werde ich mich kümmern. Ich habe das sichere Gefühl, dass wir solch einen Hiddenseer Siheyuan irgendwann mal brauchen werden.“
Wie immer, wenn Meyerfeld solche Prognosen abgab, nahm Hans sie ernst. Und wenn sie noch so absurd erschienen. Er musste sich eingestehen, dass die Weingroßhandlung vor allem ein Hobby war. Einträglich zwar, aber nicht dazu gedacht, seinen Lebensunterhalt zu erwirtschaften. Allerdings hatte er Angestellte, und das nahm ihn in die Pflicht. Etwas Verantwortung abzugeben, konnte nicht schaden. Vielleicht würde er an die Angestellten Firmenanteile ausgeben. Mal sehen. Nach dem Tod von Lisas Eltern floss ihnen außerdem noch die Pacht der Apotheke zu. Hans hatte einen ungefähren Überblick über die finanziellen Verhältnisse, Meyerfeld hielt ihn regelmäßig auf dem Laufenden. Er erschrak jedes Mal, wenn er die Beträge aus den weltweit verstreuten Anlagen zusammenrechnete. Josephine oder die kleine Anne würden in ihrem Leben nicht arbeiten müssen. Doch dieses Vermögen blieb abstrakt. Weder Lisa noch er und erst recht nicht Josephine konnten sich ein Leben ohne eine echte Aufgabe vorstellen. Der wöchentliche Gehaltscheck aus der Weinhandlung oder von Josephines Verlagen befriedigte sie mehr, als die Summen, die sie in Meyerfelds Papieren lesen konnten. Ja, es bereitete Hans sogar eine diebische Freude, in der Familie gelegentlich Sparmaßnahmen anzustoßen. Wie auch die Nachbarn es taten in diesen Zeiten. Zum Glück schlug Lisa so gar nicht nach ihren Eltern. Sie teilte Hans‘ Bescheidenheit. Auf der anderen Seite waren sie sich dieser finanziellen Sicherheit immer bewusst. Wenn es mal dicke kommen würde, fielen sie immer auf die Füße. Die Aussicht auf ein eigenes Siheyuan begeisterte Hans. Dafür Geld auszugeben, wäre ihm eine echte Freude. Es juckte ihm in den Fingern, mit diesem Projekt zu beginnen.
Ein Jahr später …
Die Arbeiten auf dem Anweisen von Stauß waren abgeschlossen. Eine Kopie des Gewölbes unter dem Mosse-Palais war in der mecklenburgischen Provinz entstanden. Wieder war Hans beeindruckt, wie die Bruderschaft es fertig bekommen hatte, direkt unter den Augen der raffgierigsten Nazigrößen ein Versteck anzulegen. Sie schauten darauf und sahen nichts. Die Überführung des Schatzes sollte in dieser Nacht über die Bühne gehen. Während die eine Gruppe den Brunnen zerlegte, katalogisierte und verpackte, machte sich eine weitere unsichtbare Gruppe daran, die Kisten aus dem Gewölbe auf die Lastwagen zu verladen. Hans und Lisa standen dabei. Wenn er nicht genau gewusst hätte, dass hier zwei unterschiedliche Aktionen abliefen, er hätte es nicht gesehen. Die Illusion war perfekt. Dann geschah der Unfall. Ein LKW setzte zurück und der Fahrer übersah zwei Arbeiter, die hinter dem LKW mit einem kleineren Transportcontainer beschäftigt waren. Den Arbeitern gelang es, mit einem beherzten Sprung zur Seite, ihr Leben zu retten. Da erst sah der Fahrer, dass jemand hinter ihm gewesen ist. Vor Schreck trat er das Gas noch ein wenig weiter durch. Die fallen gelassene Kiste wurde zwischen den hinteren Rädern und dem Bordstein eingeklemmt und aufgedrückt. Dann erst bremste er. Meyerfeld dirigierte sofort seine Schattenarmee zum Ort des Geschehens. Wie von Geisterhand tauchte ein neuer Transportbehälter auf und die Gegenstände wurden in wenigen Minuten umgeladen. Der Vorhang zu dem versteckten Theaterstück war kurz aufgerissen, aber Hans konnte sich nicht vorstellen, dass irgendjemand etwas gesehen hatte. Eine halbe Stunde später waren alle Fahrzeuge verschwunden und das Gewölbe versiegelt. Meyerfeld wartete bereits in seinem neuen MB130. Lisa ging noch mal zu der Stelle des Unfalls. Ihr schien, sie hatte etwas in dem Gebüsch hinter dem Bordstein gesehen. Und tatsächlich, beim Aufdrücken des Behälters muss ein Teil so unter Spannung gestanden haben, das es zwei Meter weit ins Gebüsch geflogen ist. Ein Wunder, dass es nicht zerstört wurde. Sie betrachtete den Gegenstand näher. Es war ein Boshanlu. Offensichtlich sehr alt. Erschrocken tat sie das Stück unter ihren Mantel und eilte zum Wagen.
„Ein Boshanlu“, sagte sie atemlos.
„Mist“, sagte Meyerfeld. „Das können wir der Sammlung nicht mehr zufügen. Die Sachen werden in vier Stunden im Gewölbe verschwunden sein. Mal ganz abgesehen davon, dass wir die Kisten gar nicht mehr öffnen können. Ihr müsst das Ding mit nach Hiddensee nehmen. Ich werde Li Li benachrichtigen. Ich glaub nicht, dass er es bei seinem nächsten Besuch mitnehmen möchte, bei dem Stress, den er letztens mit unseren Grenzbeamten hatte.“ Sie mussten lachen, als sie daran dachten.
38 Rudolf Mosse, aus einfachen jüdischen Verhältnissen stammend, errichtete einen der führenden Medienkonzerne Deutschlands. Er lebte im Mosse-Palais am Leipziger Platz. Sein Schwiegersohn Hans Lachmann-Mosse übernahm 1920 die Geschäfte. Die Nazis vertrieben und enteigneten die Mosses. Es gibt bis heute Rückübertragungsansprüche, denen von deutscher Seite aber nur schleppend nachgekommen wird.
39 Stauß war Generaldirektor der Deutschen Bank und eng mit Göring, Schacht, Goebbels und Hitler befreundet. Er diente ihnen als politisches U-Boot in der DVP. Harry Graf Kessler berichtet in seinem Tagebuch über eine Veranstaltung im Hotel Kaiserhof am Abend des 30. Januar 1933:
„Ich saß an einem kleinen Tisch zwischen ihm und dem berühmten Herrn v. Stauß, früher von der Deutschen Bank, der sich sehr dicke tat mit seinen intimen Beziehungen zu Hitler. Dieser habe ihm versprochen, er werde ihm jeden Wunsch, den er ihm zur Kenntnis bringt, erfüllen.“ Stauß war aktiv an der Enteignung der Mosses beteiligt.
40 Käthe Miete (*11. März 1893 in Rathenow; †12. März 1961 in Ahrenshoop) war eine deutsche Journalistin, Schriftstellerin und Übersetzerin.
41 Adolf Miete (*25. April 1862 in Potsdam; † 5. Mai 1927 in Berlin; vollständiger Name Adolf Christian Heinrich Emil Miete) war ein deutscher Photochemiker und Pionier der Fototechnik.