Kapitel 12 – Seewespe

Melanie Veit, Hiddensee, 5. Februar 2004

„Tja, Frau Veit, Sie taten wirklich gut daran, die Leiche so schnell zu uns zu bringen. Die Vermutung des Inselkollegen traf direkt ins Schwarze. Der Mann ist vergiftet worden. Der Vektor ist ebenfalls klar. Wir haben auf dem Kopf zahlreiche kleine punktartige Verletzungen gefunden. Stellen Sie sich einen Schwamm vor, der mit hunderten Nadeln gespickt ist. Schwamm für Fakire quasi.“

Institut für Rechtsmedizin Rostock

Dr. Vetter lachte keckernd über seinen Witz. Er fuhr fort: „Die Nadeln oder besser Kanülen waren mit einem Giftcocktail versehen. Wie gesagt, es handelt sich um einen Cocktail, nicht um ein einzelnes Gift, wie unser gutes altes Arsen. In diesem Fall haben wir es mit mindestens zehn Proteinen beziehungsweise Peptiden zu tun, die alle irgendwie beteiligt sind. Darunter ca. vier Toxine. Die einzelnen Toxine und die Mechanismen, wie die zusammenwirken, sind bis heute nicht vollständig erforscht. Dank unseres sündhaft teuren Massenspektrometers sind wir zumindest der Herkunft auf die Schliche gekommen. Unsere Venom-Datenbank hat uns erzählt, dass das Spektrum zu fünfundneunzig Prozent mit dem des Giftes der Chironex fleckeri übereinstimmt“, schloss der Rechtsmediziner.
„Aha, ja klar“, sagte Melanie, „und das kann ich in der Ratsapotheke kaufen – oder?“
Dr. Vetter war in seinem Element und antwortete: „Wenn dem so wäre, dann wär ich der Erste, der dort den Laden leer kaufte.“
Melanie beschloss, sich dieses Fast-Geständnis für mögliche Giftmorde in der Zukunft, zu merken.
„Jetzt mal Butter bei die Fische, Doktor. Wie heißt das Gift? Wo kommt es her? Wie viel brauche ich, um jemanden umzubringen? … Und das ganze Zeugs.“
„Also gut“, sagte er, „Chironex fleckeri wird auch Seewespe genannt. Ein sehr passender Name, wenn Sie mich fragen, denn der Kontakt ist ausgesprochen schmerzhaft. Es ist eine Quallenart, welche zu den Würfelquallen gehört und in Nordaustralien, Neuguinea, Indonesien, Philippinen, Thailand und Vietnam vorkommt. Das Gift einer einzelnen Qualle würde reichen, um 100 Erwachsene umzubringen. Das ist jedoch rein theoretisch. In der Realität geht das Treffen mit der Würfelqualle meist nicht tödlich aus. Es gibt außerdem ein Gegengift, das so einigermaßen hilft – wenn man schnell genug ist. Besonders gefährdet sind Kinder. Die Qualle schießt nicht alle Nesselzellen gleichzeitig ab und unter denen sind wiederum etliche Blindgänger. Die explodieren nur, wenn man die Tentakel ungeschickt entfernt. Bei Quallenzusammenstößen handelt es sich nicht immer um Unfälle im eigentlichen Sinne. Diese Quallen sind außerordentlich hoch entwickelt, haben eine Art Gehirn, können sehr gut sehen und machen Jagd auf Krebse, andere Quallen und auch Fische. Es kann gut sein, dass die ein Kind als Beute einstufen und entsprechend angreifen. Aber das ist alles Spekulation. Die Forschung weiß erstaunlich wenig über diese Gattung. Je nach Anzahl der explodierten Nesselkapseln und dem Gewicht des Opfers kann der Tod innerhalb von 5 bis 30 Minuten eintreten. Qualvoll, wie gesagt. Der Cocktail lähmt das Herz, lässt das Blut gerinnen, die roten Blutkörperchen werden zersetzt und noch so einiges. Bei unserem Opfer haben wir, trotz des verhältnismäßig weit zurückliegenden Todeszeitpunktes, eine enorm hohe Konzentration feststellen können. Ich gehe von maximal 5 Minuten Restlebenszeit aus.“
Melanie fragte: „Wo bekomme ich das Teufelszeug denn her?“
„Mmhh, damit sprechen Sie ein interessantes Problem an. Die Nesselkapseln funktionieren im übertragenden Sinn wie ein messerbewährter Behälter unter 140 bar Druck, in dem mehrere Komponenten ordentlich gefaltet gelagert werden. Wenn dieser Behälter explodiert, schlitzen die Messer rein mechanisch alles in der nächsten Umgebung auf. Daraufhin entfalten sich die einzelnen Komponenten und dann kommen wirklich komplizierte chemische Reaktionen in Gang, die wir wie gesagt, nur im Ansatz verstehen. Und da wir diesen Prozess, die beteiligten Komponenten und die Wirkmechanismen nur schlecht verstehen, gingen wir bislang auch nicht davon aus, dass man ein solches Gift gewinnen, stabil lagern und … nun ja … anwenden könnte.“
„Oh!“, sagte Melanie, „wir haben es also mit einer unbekannten Tatwaffe zu tun. Haben Sie eine Ahnung, wer am ehesten dazu in der Lage ist, so etwas herzustellen?“
Der Doktor ließ sich mit der Antwort Zeit: „Na ja, da wäre zuerst das Militär, das mir in den Sinn kommt. Die hätten das Geld für eine solche Forschung. Aber ehrlich gesagt, sehe ich hier keinen militärischen Nutzen. Im biologisch-chemischen Lager gibt es deutlich hoffnungsvollere Kandidaten, um viele Menschen schnell und rückstandsfrei zu töten. Wenn Sie mir meinen Zynismus verzeihen mögen. Mal ganz abgesehen davon, dass solche Forschung verboten wäre. Für die Medizin sind solche Gifte natürlich sehr interessant. Zum einen lernen wir enorm viel, wenn wir die Mechanismen entschlüsseln, wie einzelne Gifte mit ihren Pro-Parts funktionieren. Daraus lassen sich gelegentlich sogar neue Behandlungsmethoden entwickeln. Und dann sind da noch die Komponenten selbst. Daraus können im besten Fall neue Medikamente entwickelt – und patentiert – werden. So eine Forschung ist jedoch richtig teuer. Daher kommen nur größere Pharma-Unternehmen und einige wenige universitäre Einrichtungen infrage. Hier in Europa kenne ich keine Uni, kein Institut, das sich aktuell mit dem Melken von Würfelquallen befasst. Dagegen habe ich von der University of Queensland in Australien, dem Institute of Oceanology in Qingdao und dem Pacific Cnidaria Research Lab der Hawaii Uni mehrere Paper gefunden, die sich genau mit dieser Problematik befassen. Wenn Sie wollen, kann ich Sie ihnen gerne überlassen. Ich kann‘s aber auch zusammenfassen: Wir sind dicht dran, aber haben noch nix. Was die Pharma betrifft, da können Sie gerne anfragen, aber erfahrungsgemäß werden die über laufende Forschung nichts rausrücken. Da kommen Sie nur mit Staatsanwalt und einem richtig deftigen Verdacht ran.“
Melanie fragte: „Was ist mit dem Todeszeitpunkt?“
Der Mediziner antwortete: „Aufgrund der Witterung, der Auffindesituation usw. ist das nur sehr schwer einzugrenzen. Angesichts des Wassers und des Windes fiel die Kerntemperatur schneller als üblich. Nach unserer Simulation, in die wir die Daten des Inseldocs inklusive der verfügbaren meteorologischen und topologischen Daten eingegeben haben, gehen wir jetzt davon aus, dass er da 1.5 Stunden tot gelegen hat, bis der Doktor gekommen ist. Also circa null Uhr dreißig plus minus zwanzig Minuten. Er hat da gar nicht so schlecht gelegen, der Kollege.“
„Na gut“, sagte Melanie, „haben Sie sonst was, Zettel mit Namen des Mörders im Magen oder so?“
Der Doktor antwortete: „Nein, leider nicht. Mal abgesehen davon, dass Tinte im Magen nicht lange lesbar bleibt, habe ich diesen Witz schon so oft gehört, dass man mich allein dafür ins Guinnessbuch aufnehmen müsste. Vielleicht regen Sie das unter ihren Kollegen mal an?“
Melanie antwortete: „Alles klar Doktor, wir werden unsere Witze demnächst rasieren. Ich habe erst mal alles, was ich brauche. Es wäre nett von Ihnen, wenn Sie sich bezüglich des Giftes ein wenig umhören könnten. Bis Später!“

Hiddensee

Melanie legte den Hörer auf, um ihn gleich darauf wieder aufzunehmen. Sie wählte die Nummer der Staatsanwaltschaft in Stralsund.
„Hallo Frau Staatsanwältin, haben Sie das fertig, um das ich Sie gestern Abend per E-Mail gebeten habe?“
Die Staatsanwältin sagte: „Ja, der unterschriebene Durchsuchungsbeschluss kommt bei Ihnen gleich durchs Fax. Ich hoffe ja, dass Sie das da drüben mit den wenigen Leuten hinbekommen. Was Ihren Chinesen betrifft, da gibt es eventuell noch heute neue Nachrichten. Aus Rostock wurde ein Treffer gemeldet. Es sieht so aus, als wenn der sich mit der Fähre nach Dänemark verabschieden will. Die Kollegen sind bereits vor Ort und warten auf den Herrn. Wenn auch unter Vorbehalt, denn noch wissen wir nicht, ob das wirklich der Gesuchte ist, heißt der Verdächtige Wai Hen Cheung und ist Hong Konger. Sie lagen gar nicht so verkehrt mit Ihrer Vermutung.“
Melanie fragte: „Was denken Sie, wann sich eine andere Behörde in den Fall einmischt? Unser Opfer ist Brite und es gibt mehrfach Hinweise auf Verstrickungen in die organisierte Kriminalität. Mal ganz abgesehen davon, dass sich der Fall schon auf drei Nationen ausgebreitet hat. Wir fühlen uns hier zwar nicht überfordert, aber ich kann es nicht leiden, wenn wir uns den Hintern aufreißen und am Ende kommt einer lang und schmeißt, Kraft seiner Wassersuppe, alles wieder weg und fängt noch mal von vorne an – weil er das auf seinem FBI-Kurs so gelernt hat. Sie wissen ja, gebranntes Kind und so …“
„Ich weiß, was Sie meinen“, sagte die Staatsanwältin, „verhindern kann ich solche Aktionen in ihrer letzten Konsequenz nicht. Aber seien Sie versichert, dass ich auf Ihrer Seite bin. Wenn es mir irgendwie möglich ist, versuche ich derlei Schwachsinn zu verhindern. Es sollte ja dem Dümmsten klar sein, dass wir umso besser aus der Sache rauskommen, je schneller wir sie hinter uns bringen. Bislang wurde ich von verschieden Herren nur um eine Einschätzung Ihres Teams gebeten. Also, ob Sie es gebacken bekommen und so weiter … Die chinesische Botschaft hat natürlich reagiert, weil wir einen ihrer Staatsbürger zur Fahndung ausgeschrieben haben. Wir sind so verblieben, dass wir die über alle neuen Wendungen informieren. Die Briten haben sich bei irgendwelchen höheren Stellen ebenfalls schlaugemacht. Welche weiß ich leider nicht, die Info habe ich nur über meinen Chef bekommen. Sieht so aus, als wenn Sie erst mal freie Bahn hätten.“
„Alles klar, dann machen wir so weiter, wie geplant“, sagte Melanie.
Sie erzählte der Staatsanwältin kurz von ihrem Gespräch mit der Rechtsmedizin und beendete dann das Gespräch.

Hiddensee

Nach dem zweiten Frühstück machte Melanie sich daran, die Häuser entlang des Weges vom Strand am Süderende bis zum Onkel Hendrick abzuklappern. Das hieß an jedem Haus anzuklopfen, dieselben Fragen zu stellen, eventuell nachzuhaken und anschließend, ohne unhöflich zu erscheinen, das Gespräch schnell zu beenden, wenn sich herausstellte, dass der Zeuge unergiebig war, um dann zum Nächsten zu eilen. Zu ihrem Glück gab es nur einen Weg, an dem man Anwohner befragen konnte. Der andere Weg verlief am Ostsee-Strand. Ein dritter war ein echter Umweg und führte auf der Boddenseite entlang. Diesen hätte Thomas nur genommen, wenn er mit einem Auto, Bus oder Fuhrwerk unterwegs gewesen wäre. Daher ersparte Sie sich diesen Teil. Sie konnte von Glück reden, dass keine Saison war. Viele Häuser erwiesen sich als unbewohnt. Offensichtlich überwinterten viele Insulaner in weniger unwirtlichen Gefilden. Wer konnte es Ihnen verdenken. Obwohl die Temperaturen um den Nullpunkt pendelten, hatte sich wegen des anhaltenden Schneefalls eine dicke Schneedecke gebildet. Wenn es kälter würde und der Schnee gar nicht mehr taute, müsste man sich auf weitere Einschränkungen gefasst machen. Sollte wirklich ein Verdächtiger in Rostock gefasst werden, dann müssten sie von der Insel runter, um in Rostock oder Stralsund die notwendigen Anhörungen vorzunehmen. Die Arbeit, die sie gerade jetzt tat, hätte sie auf dem Festland an ihre uniformierten Kollegen delegiert. Mit dreieinhalb Leuten, Henry Bade zählte sie nicht voll, waren sie etwas unterbesetzt. Ein, zwei Leute mehr wäre schon gut. Eventuell würde sie die anfordern. Wenn auch mit wenig Hoffnung. Andererseits musste sie sich eingestehen, dass es ihr Spaß machte, durch die frische Luft zu stapfen und Hiddenseer aufzuscheuchen. Einfache, ehrliche Polizeiarbeit. Sie versuchte, sich in ihren DDR-Blues einzuschwingen, doch es gelang ihr nicht wirklich. Sie hatte, ganz gegen ihre Absicht, eine blendende Laune. Kloster war bereits in Sicht. Noch den Kirchweg bis zum Hügelweg und dann über den Postweg und Weißen Weg wieder zurück nach Vitte.
Sie nahm das Telefon zur Hand. „Hallo Papa, Melanie hier. Ich komme jetzt gerade in Kloster an. Seid ihr schon da?“
Papa antwortete: „Ja, wir sind in Kloster. Wir haben die um die Kneipe herum liegenden Pensionen abgeklappert. Ich habe außerdem Charlotte gebeten, dass Sie uns mal ein Phantom-Bild nach den Angaben des Kneipiers macht. Hat sie.“
„Bist du verrückt?“, fragte Melanie, „Wenn die uns eine Rechnung schickt, isst die gesamte MV-Polizei nur noch trocken Brot.“
Papa lachte: „Nein macht sie nicht. Ich hab das geklärt, hö hö.“
„Hör ich da einen sexistischen Unterton?“, fragte Melanie.
„Auf keinen Fall Frau Kriminalhauptkommissarin. Ich bin Grieche … also irgendwie. Wir legen für eine Frau schon mal die halbe Welt in Schutt und Asche. Sexismus ist uns wesensfremd“, antwortete Papa zweideutig. Er fuhr fort: „Ich schlage vor, dass wir uns in einer Stunde am Onkel Hendrick treffen. Die Kneipe ist leider noch geschlossen. Wir sind mit dem Auto da und können zusammen zurückfahren. In der Zwischenzeit fahren Bade und ich nochmal nach Grieben und zeigen dort das Bild des Paares herum. Okay?“
„Alles klar“, sagte Melanie, „mehr Zeit brauche ich nicht. Also dann bis nachher.“
Die Tatsache, dass sich dieses Paar einfach nicht auftreiben ließ, stimmte sie nachdenklich. Bislang rangierten die beiden in der Kategorie Zeuge. Mal abgesehen von der Möglichkeit, dass sie das Opfer neben dem Täter als letztes lebendig gesehen hatten, gab es auch die Variante, dass sie tatsächlich die letzten waren. So gesehen hatte sie drei tatverdächtige Parteien. Das mit dem Phantombild war eine gute Sache. Zwar hätte sie erwartet, dass er das Vorhaben, eine Zeugin damit zu beauftragen, abstimmte, aber sie hätte an seiner Stelle genauso gehandelt. Warum durch albernes Kompetenzgeeiere Zeit verlieren? Sie stapfte weiter.

Hiddensee Vitte

Auch die letzten Befragungen an der Haustür brachten nichts Verwertbares. Sie trafen sich wie verabredet an der Kneipe. Angesichtes der Fahrräder, fragte Melanie Bade, wie viele Fahrraddiebstähle es auf der Insel gäbe – außerhalb der Saison.
Bade antwortete: „Auch wenn es sich formal um Diebstahl handelt, reden wir hier nicht so gern davon. Es ist mehr ein Ausleihen. Kaum ein Dieb ist so bekloppt und versucht, seine Beute über die Fähre in Sicherheit zu bringen. Die sind alle videoüberwacht. Es geht den meisten Dieben nicht darum, ein neues Fahrrad zu besitzen, sondern um schnell von A nach B zu kommen. Wir finden alle entwendeten Fahrräder wieder. Ich weiß, worauf Sie hinauswollen. Natürlich haben wir hier im Kneipenumfeld nach vermissten Rädern gefragt und ich habe heute Morgen am Strand ebenfalls nach möglichen Fahrrädern Ausschau gehalten. Leider nichts.“
„Sehr gut, mein lieber Bade. Eigeninitiative – das lob ich mir“, sagte Melanie etwas spöttischer als beabsichtigt.
Bade sagte: „Mmhh, wenn ich noch was sagen könnte?“
„Nur zu“, antwortete Melanie.
„Es gibt eine dritte Möglichkeit des Transports, die wir eventuell übersehen haben. Auch wenn es die Inselpolizei nervt, ähmm … und dies wiederum die Radfahrer nervt, aber es ist auf der Insel völlig normal, jemanden auf der Stange oder dem Gepäckträger mitzunehmen. Was ist, wenn das Paar in Vitte oder Neuendorf wohnt und der Engländer, quasi per Anhalter, bis Süderende mitgefahren ist?
Melanie revidierte innerlich die Teamstärke von dreieinhalb auf vier „Bade, das ist brillant! Natürlich! Und das wäre auch die Erklärung, warum die hier nirgendwo wiedergesehen wurden. Ich nehme an, das Bild von dem Paar hängt nur in Vitte und Kloster rum?“
„So ist es“, bestätigte Papa. „Der Chinese hängt aber auf der ganzen Insel.“
„Jetzt könnten wir doch ein paar mehr Leute gebrauchen“, überlegte Melanie laut. „Wir müssen das Zimmer der Frau Thomas durchsuchen. Der Beschluss liegt schon im Fax in der Station. Da kann ich keinen entbehren. Und wenn wir mit der Durchsuchung fertig sind, ist es schon wieder dunkel. So ein Mist!“
Papa sagte: „Na ja, wir können auch Bürger zur Mithilfe heranziehen. Wie wäre es mit Charlotte? Ich meine, sie hat bis jetzt schon sehr gute Arbeit gemacht. Ein paar Bilder in Neuendorf aufzuhängen und ein bisschen nach den beiden herumzufragen, wird sie schon auch noch schaffen.“
„Du vergisst, dass die beiden verdächtig sind. Wir setzen Charlotte mit so einem Ansinnen einer realen Gefahr aus. Außerdem lektoriert die Dame Krimis. Wer weiß, was sie sich aufgrund dieser Erfahrungen alles zutraut. Nicht, dass sie auf schmerzvolle Art lernen muss, dass die Bücher das eine und die Realität das andere sind … und wir am Ende daran Schuld haben? “
„Charlotte ist nicht blöd“, sagte Papa. „Außerdem werde ich ihr noch mal klar erklären, dass dies hier kein Krimi ist. Ich vermute aber, das weiß sie schon. Wenn wir länger warten, fahren eventuell die Fähren wieder und dann haben wir unsere liebe Not, denen allen nachzureisen.“
Melanie knickte ein. Die Argumente waren überwältigend. Für die Durchsuchung brauchte sie jeden Mitarbeiter. Üblicherweise dauerte so eine Angelegenheit mindestens zwei Stunden. Danach in Neuendorf auszuschwärmen und die Leute beim Abendbrot und Bier zu nerven, war schon dreist. Zumal sich auch ihre Batterien allmählich leerten. Sie erwartete jeden Augenblick einen Anruf von der Hiddensee Reederei. Nach diesem Anruf würden die, deren Abreise überfällig war, sofort mit der nächsten Fähre die Insel verlassen. Und dann war da noch Rostock. Wenn die sich wegen des Chinesen melden, und sie ging davon aus, dass dies noch heute geschah, dann würde sie morgen nach Rostock fahren müssen.
„Also gut“, sagte sie. Weisen Sie Frau Hinrichs genau ein. Wenn sie die beiden gefunden hat, dann soll sie im Hintergrund bleiben. Am besten sie hält sich immer in der Nähe anderer Menschen auf. In Neuendorf soll es ja auch Kneipen geben – oder?“
Papa nahm sein Telefon heraus und ging ein paar Schritte abseits, um mit Charlotte zu telefonieren.
Als er wieder zu ihnen zurück schlenderte, fragte Melanie ihn: „Geheimnisse?“
„Nee, nicht wirklich. Wir sind uns bloß nicht über die Vornamen unseres ersten Kindes einig“, antwortete er, ohne die Miene zu verziehen.
Treder und Bade starrten ihn entsetzt an. Melanie grinste.
„Ich werde ihr ein paar Vorschläge machen“, sagte sie.

Hiddensee Vitte Suederende

Sie fuhren mit einem kurzen Zwischenstopp an der Station zur Pension Hinrichs. Charlotte hatte sich bereits auf den Weg nach Neuendorf gemacht. Christine Thomas öffnete und blickte die vier Polizisten an. Verstehend zog sie die Tür ganz auf und bat die Polizisten herein. Sie ging aus dem Appartement und setzte sich auf das Sofa neben einem üppigen Bücherregal, welches eigens für wartende Gäste im Flur stand. Melanie erklärte ihr die Prozedur und versicherte, dass dies alles reine Routine sei. Das stimmte zwar, aber die Thomas ließ Melanie wissen, dass sie verstanden hat, dass sie als eine wesentliche Verdächtige rangierte. Ihr Umgang mit der Polizei war ausgesprochen professionell. Gelernt ist gelernt, dachte Melanie. Sie traute der Frau nicht einen Millimeter über den Weg. Mag sein, dass sie ihren Mann nicht umgebracht hat, aber Dreck am Stecken hatten die Thomas auf jeden Fall.
Melanie fragte: „Frau Thomas, Ihr Mann galt als ausgezeichneter Kenner chinesischer Kunst. Können Sie sich vorstellen, dass der Mord vor diesem Hintergrund motiviert war?“
„Ich habe nicht die geringste Ahnung, warum und wer Reg dies angetan haben sollte. Ja, wir sammeln ein bisschen Kunst. Gelegentlich kaufen oder verkaufen wir etwas. Aber das ist doch kein Grund, jemanden umzubringen – oder?“, sagte die Thomas.
„Sagen Sie es mir“, schoss Melanie nach. „Wir haben von der Kent Police den Hinweis bekommen, dass sie beide in Verdacht stehen mit Pretiosen zu hehlen. Wenn ich jetzt den Chinesen dazunehme, der sich mit ihrem Mann hier im Hotel gestritten hat, und dann bedenke, dass sie aus Hong Kong stammen, dann bekomme ich ganz trübe Gedanken. Das verstehen Sie sicher? Vielleicht können Sie die ein bisschen aufhellen?“
„Bollocks!“, fuhr sie auf, „nicht jeder, der in Hong Kong aufgewachsen und einigermaßen vermögend ist, hat automatisch was mit der Mafia zu tun. Typisch Deutsch wieder. Wenn Sie nicht weiterwissen, verfallen Sie in Rassismus. Kennt man ja. Muss ich mir das eigentlich gefallen lassen?“
„Ja, müssen Sie“, antwortete Melanie ungerührt, „und glauben Sie mir, in Kent würde man Ihnen die gleichen Fragen stellen. Aber das wissen Sie ja selbst, Sie haben in Maidstone schon öfter Fragen beantworten müssen – richtig?“
Wenn die Frau schauspielerte, dann machte sie das ausgezeichnet. Sie war fast geneigt, ihr die Empörung abzunehmen. Aber eben nur fast. Ihre Erfahrung hatte sie mehr als einmal gelehrt, dass man schon rein prophylaktisch einem Verdächtigen erst mal gar nichts glauben sollte. Unschuldsvermutung hin oder her.
Christine Thomas antwortete: „Ja, die Kent Police ist vor allem von Sozialneid getrieben. Nicht arbeiten zu müssen ist für die schon ad hoc ein Verbrechen im ehemaligen Empire. Komisch nur, dass die bösen Jungs in unserem County immer aus der Unterschicht stammen.“
Melanie hatte keine Lust auf politische Albernheiten. Sie kannte längst den Unterschied zwischen Recht und Gerechtigkeit und wusste, dass Justitia blind, aber nicht taub ist. Das Klingeln des Geldbeutels war in Kent genauso laut wie in Vorpommern. Die Thomas‘ hatten einflussreiche Freunde im County. Sie würde Marie-Ann Chittenden von der Kent-Police nach den Verquickungen von Adel, Geld und Politik im Umfeld der Thomas‘ fragen.
Melanie schaltete einen Gang runter: „Frau Thomas, wir sind auf ihrer Seite. Wir wollen den Mörder ihres Mannes finden und seiner gerechten Strafe zuführen. Natürlich haben wir eine Art Routine. Und die kommt außenstehenden manchmal etwas ruppig vor. Entschuldigen Sie bitte, wenn das der Fall gewesen sein sollte.“ Melanie fuhr fort: „Wir sind im Moment vor allem auf der Suche nach dem Notizbuch. Unter Umständen ergibt sich aus dem Inhalt ein Motiv. Folgendes muss ich Sie fragen: Wie ist Ihre Ehe gewesen?“
„Gut. So weit. Wir waren fast 20 Jahre verheiratet, da schleift sich manches ab. Aber wir waren zusammen. Es gab keine Dritten. Weder bei ihm noch bei mir.“
„Hatten Sie Feinde, oder kennen Sie Leute, die andere Motive wie zum Beispiel Neid zu einem Mord verleiten könnten?“
„Feinde? Nein. Es gab hin und wieder schon mal geschäftliche Probleme. Aber das würde ich nicht Feindschaften nennen. Business as usual. Neider gibt es viele, aber die könnten sich an anderen viel besser reiben. Wir führten ein sehr zurückgezogenes Leben auf dem Land. Das uns einer von denen auf diese Insel hinterherreist, halte ich für völlig ausgeschlossen.“
„Hatten Sie jemandem mitgeteilt, wo sie hinwollten?“
„Nein, natürlich nicht. Die Hausangestellten und ein paar wenige wichtige Personen haben unsere Telefonnummer. Wenn es ein Problem gibt, dann rufen die uns an. Niemand muss wissen, wo wir gerade sind.“
„Was haben Sie beide damals in Hong Kong gemacht?“, fragte Melanie endlich die Frage, die ihr schon eine Weile auf der Zunge brannte.
„Wir haben als Beamte der Krone in der Stadtverwaltung gearbeitet. Reg in der Land Registry und ich im Census and Statistics Department. So sind wir uns auch das erste mal begegnet. Als wir dann feststellten, dass wir die gleiche Leidenschaft hatten, kamen wir uns näher.“
„Mit Leidenschaft meinen Sie chinesische Kunst?“
„Ja genau.“
„Warum sind sie ins Mutterland gezogen?“
„Nach der Rückgabe wurde die Verwaltung vollständig umgekrempelt. Wir haben unsere Arbeit verloren. Außerdem gab es Begehrlichkeiten vom Mainland auf unsere Sammlung. Eine Frechheit eigentlich. Schließlich haben wir alles ordentlich bezahlt. Also haben wir die Koffer gepackt und sind nach England gezogen.“

Melanie war sich sicher, dass dies nur ein Teil der Geschichte war. Einfach so Beamte entlassen? Auch das musste sie Marie-Ann fragen. Und was die Kunst betraf, da hatte sie ihre Erfahrung einiges gelehrt. Raubkunst war kein Phänomen des Zweiten Weltkriegs. Nach der Wende fielen im Osten zahlreiche Kirchen, Kapellen, Heimatmuseen, aber auch Dachböden und Wohnungen von Rentnern, ja ganze Höfe, den Kunst-Raub-Rittern aus dem Westen zum Opfer. Nicht nur in Ostdeutschland. In Tschechien, Polen, Slowakei, Ungarn entfaltete sich die kriminelle Energie ungehemmt. Es war wie eine Seuche, die plötzlich über den ehemaligen Ostblock herfiel. An den erlittenen Verlusten konnte nicht einmal der Dreißigjährige Krieg mithalten. Einige wenige Sachen wurden wiedergefunden. Die meisten verschwanden auf nimmer Wiedersehen in den privaten Sammlungen der besseren Gesellschaft. Melanie konnte sich gut an einen Anwaltskollegen in Berlin erinnern, der ihr voller Stolz seine Ikonen-Sammlung zeigte. Auf ihre Frage, wo er die bunten Brettchen denn herhätte, lächelte er nur und meinte: „Ach das wollen Sie gar nicht wissen.“ Sie wollte das damals schon wissen. Jetzt war sie bei der Polizei und der College stand fast ganz oben auf ihrer Bevor-Ich-Sterbe-Liste … wenn auch nicht wegen der Bildchen.
Dass die Thomas‘ ihre Stücke bezahlt hatten, bezweifelte sie nicht. Aber das die Herkunft immer ganz einwandfrei war, konnte sie beim besten Willen nicht glauben. Angesichts des verheerenden nachwendlichen Beutezuges haben sich die Kirchen, einige weitere Geschädigte und potentielle Opfer zusammengetan und Register geschaffen. Diese überließen sie bei aufgetauchten Kunstgegenständen gerne der Polizei. Auf diese Weise kehrte hin und wieder ein Stück an die rechtmäßigen Besitzer zurück. Es war ein Tropfen auf den heißen Stein. In anderen Ländern existierten neben den Registern der privaten Organisationen auch staatliche Register. Und China führte ein solches staatliches Register. Das wusste sie, weil sie sich bei ihren Raubkunstfällen für dieses Thema interessiert hatte. Sie würde jede Wette eingehen, dass die Thomas-Sammlung nur so vor Raubkunst strotzte. Nun war sie bei Mord&Totschlag und hatte mit Raub nur noch am Rande zu tun, aber sie würde sich auf den neusten Stand bringen lassen.

Melanie wandte sich wieder an Christine Thomas: „Haben Sie eine Ahnung, was in dem Notizbuch steht?“
„Die Antwort wird Sie jetzt vielleicht wundern, aber ich habe nie einen Blick in das Buch werfen dürfen. Reg war da sehr eigen. Er meinte, das sei eine Art Tagebuch und er möchte nicht, dass dies irgendjemand liest. Auch ich nicht. Das wäre außerdem nicht so einfach möglich gewesen. Das Buch war immer bei ihm. Selbst, wenn er aufs Klo ging oder abends ins Bett kam. Ich habe ganz früher mal versucht hineinzuschauen, das führte fast zur Scheidung. Seitdem existieren die Bücher für mich nicht mehr.“
Melanie sagte: „Das verstehe ich jetzt wirklich nicht. Wo landeten denn die vollgeschriebenen Bücher?“
„Das habe ich mich damals auch gefragt. In einem unserer Safes im Haus auf jeden Fall nicht. Wir haben beide Zugang zu den Dingern. Ich habe da nie eins gesehen. Ich vermute, es gibt irgendwo ein Schließfach. Ob das jetzt im Zuge der Erbschaft gefunden wird, bezweifle ich, wenn ich daran denke, was er für ein großes Bohei darum gemacht hat.“
Ah, Erbschaft, dachte Melanie, eine weitere Sache für Ms. Chittenden. Sie fragte: „Haben Sie einen Ehevertrag?“
„Nein haben wir nicht. Wir haben vor einigen Jahren jeweils ein Testament aufgesetzt und uns gegenseitig als Begünstigte eingetragen. Aber selbst mit Ehevertrag wäre mein eigenes Vermögen groß genug, dass ich meinen Lebensstil nicht ändern müsste. Mal abgesehen von dem nicht unwesentlichen Fakt, dass zu unserer Heirat der größte Teil des Besitzes von meiner Familie kam. Das Landhaus in Kent gehört ebenfalls dazu. Gleichwohl war Reg ein wirklich guter Geschäftsmann und hat über die Jahre ein eigenes Vermögen erarbeitet. Wie viel das ist, weiß ich nicht, aber das werden wir ja bald erfahren.“
Gerade als sie die nächste Frage stellen wollte, kam ein Anruf: „Hallo, Frau Staatsanwältin“, Melanie ging aus der Hörweite der Thomas, „haben Sie ihn?“

Neuendorf Hiddensee

„Jep! Ist uns direkt in die Arme spaziert. Und ich habe noch ein Schmankerl. Der junge Mann war mit Reizgas, Schlagstock und Schlagring bewaffnet. Außerdem trug er deutlich mehr als zehntausend Euro bei sich. Mit sowas geht man nicht an Bord einer grenzüberschreitenden Fähre. Allein mit dem Zollvergehen und der möglichen Fluchtgefahr haben wir die Möglichkeit, ihn eine Weile bei uns zu beherbergen. Sie sollten trotzdem mit ihrer Zeugin so schnell wie möglich nach Rostock kommen, um die Gegenüberstellung zu machen. Der Mann spricht zwar Englisch, wie mir die Kollegen mitteilten, verlangt aber einen Dolmetscher. Er meint, dass sein Englisch nicht gut genug sei. Wenn Sie mich fragen, dann ist das ein Vorwand, um Zeit zu gewinnen. Wir haben zurzeit keine vereidigten Sprachmittler für Kantonesisch in MV. Da wird irgendwer aus Berlin eingeflogen werden müssen. Einen Anwalt hat er bereits angerufen. Sie sehen, Sie nehmen an einem Dackelrennen teil. Also viel Glück!“
Das war gut, dachte Melanie. Sie würde mit Charlotte, mit etwas Glück, noch an diesem Abend nach Rostock fahren. Wie aufs Stichwort kam Papa angelaufen und deutete auf sein Telefon. Melanie nahm es und hörte: „Hallo DI Melanie“, alberte Charlotte am anderen Ende der Leitung, „ich habe sie!“
„Erzählen Sie mehr“, sagte Melanie.
„Die beiden sind tatsächlich Touristen, die hier in Neuendorf eine Ferienwohnung gemietet haben. Schon in der ersten Kneipe konnte mir der Wirt sagen, wo die wohnen. Bin dann dahin und justament in diesem Augenblick kamen sie aus der Tür. Sind in ein Restaurant gegangen. Ich hinterher. Da sitzen sie nun … ja und ich auch.“
Melanie war besorgt: „Ich hoffe, Sie haben noch keinen Kontakt mit denen aufgenommen?“
„Nein, die sitzen ein paar Tische von mir weg. Ich sitze am Stammtisch in der Stranddistel. Die Wirtin und ich sind zusammen zur Schule gegangen. Ich vermute mal, die wollen nur Abendbrot essen und dann noch mal los, ein bisschen in der Dunkelheit durch die Heide. Solche Leute machen das. Das heißt, die werden nicht ewig hier abhängen. Sind nicht so die Kneipentypen. Soll ich sie festnehmen?“
„Klar Judge Charlotte“, sagte Melanie, „den Rest können Sie auch gleich erledigen spart enorm Zeit und Papierkram sowieso.“ Melanie dachte einen Augenblick nach und sagte dann: „Im Ernst, wir sind hier fast fertig. Ich denke in circa fünfundvierzig Minuten können wir bei Ihnen sein. Bitten Sie ihre Schulfreundin, sich nicht zu überschlagen. Gut Ding will Weile haben. Das gilt in der Cuisine erst recht. Wenn wir wider Erwarten länger brauchen, oder die schneller essen als gesund ist, lassen Sie die Kasse kaputt gehen oder sowas – keine Ahnung. Aber eins tun Sie um Gottes willen nicht, exponieren Sie sich nicht gegenüber den beiden als Hilfspolizistin. Ich kann die nicht einschätzen und Sie erst recht nicht. Doch im Gegensatz zu Ihnen habe ich eine Waffe. Also bleiben Sie schön ruhig und genießen den Abend auf Staatskosten.“
„Echt jetzt, auf Staatskosten? Menno hätten Sie das nicht vorher sagen können. Jetzt habe ich schon bestellt … ‘nen Dorsch und ein Hiddenseer. Also Tschüss dann. Ich muss noch schnell die Bestellung auf Räucheraal und ‘nen guten Pouilly-Fume ändern lassen. Bye bye.“
Vielleicht hätte sie das mit den Kosten später erwähnen sollen.

Hiddensee

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