Hans Hinrichs, Yuantou, Berlin, 1923
Hans sah sich im Tientsin(33) um. Dunkle Holzstühle, weiße Tischdecken, deutsche Kellner im weißen Frack und kein Chinakitsch. An den Tischen saßen gut gekleidete, junge chinesische Männer – offensichtlich Studenten – meist in Begleitung von ebenfalls gut aussehenden europäischen Frauen. Die Speisekarte enthielt nordchinesische Gerichte. Das kam ihm entgegen. Die Preise weniger. Wer hier essen ging, der musste wirklich wohlhabend sein. An der Scheibe neben der Tür hing ein Schild auf Deutsch: „Japaner und Engländer werden höflichst darauf aufmerksam gemacht, dass für ihre Sicherheit in diesem Lokal nicht garantiert werden kann.“ Hans konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. Das hier war eine verkehrte Welt, dachte er. Eben noch lebte er in China, in einem anderen Jahrtausend, mit anderen politischen Vorzeichen. Nun hatte ihn die Vorsehung zurück in die Gegenwart, ins Jahr 1923, nach Berlin in die Kantstraße 130b, ins Tientsin, geschleudert. Die Absurdität seiner Situation konnte er körperlich spüren. Ihm wurde schwindelig. Das ist also der Kulturschock, der bislang ausgeblieben ist, konstatierte Hans für sich.
Das Erkennungszeichen war ein fliederfarbenes Einstecktuch. Hans genierte sich zwar, es zu tragen, aber er konnte sich sicher sein, dass er nicht viele andere mit dieser Farbe im Restaurant treffen würde. Er hatte eine grobe Beschreibung seines Kontaktes von Meyerfeld bekommen. Hans sah sich um. In der Nähe des Fensters und etwas abseits von den anderen Tischen fand er, wen er suchte. An seinem Tisch saß außerdem eine junge Frau. Sie trug einen leicht versetzten Mittelscheitel, wobei sie die Haare zu einem Dutt zurückgebunden hatte. Ihr hübsches, energisches Gesicht passte zum Haarschnitt. Vielleicht eine der Tänzerinnen von Labans Ballettschule, dachte Hans. Der Mann erinnerte ihn ein bisschen an seinen Ziehsohn Li Li. Immerhin, Meyerfelds Beschreibung war wie immer auf den Punkt genau. Er ging zu dem Tisch hinüber. Sein Kontakt stand auf, reicht ihm die Hand und stellte sich in gepflegtem Chinesisch vor: „Hallo Hans, mein Name ist Zhou Enlai(34) und das ist Fräulein Netty Reiling(35)“. In gewagtem Deutsch wandte er sich an die Frau: „Netty, das Hans Hinrichs.“
Sie sagte: „Hallo Herr Hinrichs, habe schon viel von Ihnen gehört. Nicht nur von Zhou Enlai. Sie sind unter den Chinesen recht bekannt, wie ich hörte?“
„Wissen Sie“, antwortete Hans höflich, „meine Familie und ich haben lange in China gelebt, da lernt man viele Chinesen kennen. Aber ich glaube nicht, dass ich wirklich bekannt bin. Ein Exot vielleicht. Als ich hier wegging, da gab es noch Kaiserreiche in China und in Deutschland … Das ist wohl vorbei. Nun ja …“
Sie lächelte ihn an.
Zhou fuhr auf Chinesisch fort: „Fräulein Reiling studiert in Heidelberg Sinologie, promoviert jedoch gerade. Wahrscheinlich wird sie noch dieses Jahr mit ihrem zukünftigen Mann in diese Gegend ziehen. Sie wird mir oder besser uns, hier in Deutschland ein bisschen unter die Arme greifen. Wenn ich recht informiert bin, hat Li Li ihnen Fräulein Reiling angekündigt?“
„Haben Sie etwas von Li Li gehört?“, fragte Hans Zhou auf das Stichwort hin.
„Ja, wenn auch nicht direkt von ihm selbst, sondern über einen Kurier. Er lässt Sie, Lisa und Josephine ganz lieb grüßen. Der Kurier hat mir Briefe an sie drei mitgegeben, die er erst letzte Woche geschrieben hat. Er hält immer noch daran fest, sie so bald wie möglich hier in Deutschland besuchen zu können. Aber Sie wissen ja selbst, die Situation in China wird immer unübersichtlicher. Und damit kommen wir zum eigentlichen Kern unserer Zusammenkunft hier.“
Wie Meyerfeld damals, 1913, vorausgesagt hatte, brach der Krieg in China mit einer für die Hinrichs unfassbaren Vehemenz aus. Es war gut, dass Li Li schon die entsprechende Vorsorge getroffen hatte. In einer Nacht-und-Nebel-Aktion wurde der gesamte Besitz der Hinrichs in Lastwagen verladen. Mitsamt der Familie fuhren sie davon. Vierundzwanzig Stunden später kam der Konvoi, nach fast pausenloser Fahrt, in der Nähe des kleinen Dorfes Yuantao im Yangshang Gebirge in der Zhejiang-Provinz an. Die Fracht wurde auf bereits wartende Esel verladen. Von da an ging es mehrere Stunden auf verschlungenen Bauernpfaden hinauf zu einem versteckt gelegenen Siheyuan. Der Hof lag in einem tausend Meter hoch gelegenem Talkessel, der wie ein Krater geformt war. Von der Rückseite ging es an einer Abbruchkante hundert Meter hinauf zu einem, das Tal umringenden Kraterrand. Das Siheyuan war eingeschlossen von Bambus und Dickicht. Selbst aus der Luft hätte man Schwierigkeiten gehabt, den Hof auszumachen. Ein ideales Versteck vor den Alliierten, den Warlords, den Japanern und wer noch alles den Hinrichs und ihren Freunden gefährlich werden konnte. In Tsingtau herrschte um diese Zeit unerfreuliche Hitze, gepaart mit hoher Luftfeuchte. Im neuen Heim waren die Temperaturen beinahe frühlingshaft. Hier lässt es sich aushalten, dachten sie, als sie sich völlig erschöpft auf ihre Betten fallen ließen. Sie nannten ihr neues Heim Kuckucksnest. In der ersten Zeit fühlten sie sich falsch an dem Ort. Im Verhältnis zu ihrem Häuschen in der Albert-Straße, welches sie immerhin Villa nannten, war das Platzangebot im Siheyuan überwältigend. Jeder suchte sich ein Arbeitszimmer und ein Schlafzimmer aus. Eine Gute Stube richteten sie sich ebenfalls ein. Es gab ein paar Bäder in der unteren Etage. Eine Quelle in der Nähe des Hofes versorgte sie mit fließendem Wasser. Sogar elektrisches Licht hatten sie. Etwas unterhalb des Hofes lag ein malerischer Wasserfall, in dessen unmittelbarer Nähe ein kleiner Generator installiert war. Die Höhenlage war im Sommer ein Segen. Im Winter dagegen wurde es empfindlich kalt. In Tsingtau pufferte das Meer große Temperaturschwankungen ab. Hier im Gebirge, circa fünfhundert Kilometer von der Küste entfernt, funktionierte das nicht mehr. Doch die Erbauer hatten dem Rechnung getragen. Im westlichen und östlichen Zug das Siheyuans war eine Kang-Heizung installiert. Auch wenn der Winter nur kurz war, waren sie dennoch dankbar über diesen Luxus. Sie hatten sich mit ihrer gesamten Habe im Hof ausgebreitet. Obwohl das Siheyuan ungewöhnlich groß war, drückten sie ihm doch – ohne es zu wollen – einen deutlichen Stempel auf.
Der Ort war alt. Die Angestellten behaupteten fest, dass es von einer Bruderschaft der Ming errichtet wurde. Josephine verliebte sich sofort in den Hof. Hans‘ größte Sorge war, dass Lisa sich an die neue Umgebung nicht anpassen könnte. Er selbst hätte keine Probleme damit, wenn nur alle anderen zufrieden waren. Aber die Angst war unbegründet. Nachdem Lisa die hygienische Situation und die Versorgung begutachtet hatte, schloss sie sich Josephines Begeisterung an.
Zum ständigen Personal gehörten eine Köchin, deren Mann, der sich um Garten und Haus kümmerte und ihre drei Kinder. Dazu kamen zwei Wachleute, die auch als Kuriere unterwegs waren.
Die Hinrichs konnten sich aufgrund der Topologie innerhalb des Talkessels frei bewegen. Hier kam niemals jemand herauf, der nicht auch erwartet wurde. Es gab Wachen in den weit entfernt liegenden Dörfern. Manchmal meldeten sie verdächtige Personen und dann musste die Familie im Haus bleiben. Aber das kam nur wenige Male im Jahr vor und erwies sich zum Glück immer als Fehlalarm.
Li Li besuchte sie unregelmäßig, aber oft. Er beschwichtigte sie, dass sie keine falsche Bescheidenheit an den Tag zu legen brauchten. Sie seien die wesentlichen Gäste der nächsten Zeit. Also solange, bis sie entweder in Tsingtau ihr gewohntes Leben wieder aufnehmen würden oder gefahrlos ihr Versteck verlassen konnten, um sich irgendwo anders niederzulassen. Der Hof hatte meist drei bis vier weitere Gäste, die manchmal auch für eine längere Zeit dort wohnten. Darunter die Lehrer für Josephine.
Das Personal sprach ein Chinesisch, das sie anfangs nur schwer verstanden. Josephine brauchte nur wenige Tage, um den Dreh herauszuhaben. Das Leben im Versteck verlief gleichförmig. Die einzigen Herausforderungen waren in der Tat das Wetter und die unbekannte Umgebung. Eines Nachts, ein starker Wind war aufgekommen, wachte Hans auf und hörte ein unheimliches Geräusch. Es klang wie das Jaulen eines unbekannten Tieres. Er ging aus dem Zimmer auf den Flur und erblickte Josephine, die ebenfalls ratlos umherlief. Vom Personal zeigte sich niemand. Josephine fasste sich ein Herz und klopfte an die Tür von Ye Fefei, der 14-jährigen Tochter der Köchin. Nach einer Weile, immer energischer werdenden Klopfens, öffnete das Mädchen endlich die Tür.
„Ye Feifei, was sind das für Tiere, die um das Haus schleichen und diesen Lärm machen“, fragte Josephine.
Xiao Ye starrte Josephine verschlafen und irritiert an. Dann brach sich die Erkenntnis Bahn und sie grinste von einem Ohr zum anderen.
„Tjaa“, sagte sie gedehnt, „das sind die seltenen, aber gefährlichen Tian-Mu-Shan–Tiger! Auf deren Speisezettel stehen eigentlich nur Japaner oder andere Tiere, aber wenn sie Hunger haben, nehmen sie auch mal ‘nen Europäer.“ Wenn das Grinsen nicht gewesen wäre, hätte Josephine, mal abgesehen vom haarsträubenden Speisezettel, an einen Tiger geglaubt. Doch so wie die Situation sich anfühlte, wurde ihr klar, dass sie gerade gehörig verladen wurden. Ye Feifei merkte, dass die Story doch nicht ganz wasserdicht war und antwortete nach einer, wie sie fand ausreichenden, Wartezeit: „Yao Se Fen, du Dummerchen, das ist der Bambus. Der macht bei starkem Wind immer solche Geräusche. Hattet ihr in Tsingtau keinen Bambus?“
Josephine und Hans wollten vor Scham in den Boden versinken. Josephine überlegte kurz, ob sie Xiao Ye, die immerhin eine Freundin war, ein Schweigegelübde abnehmen sollte. Die roch den Braten und verabschiedete sich schnell wieder in ihr Zimmer. Diese Geschichte würde auf Wochen hinaus für Unterhaltung im Siheyuan sorgen. Das durfte sie sich auf keinen Fall entgehen lassen.
Hans hatte weniger zu tun, als er es sein ganzes bisheriges Leben gewohnt war. Bislang hatte er immer hart gearbeitet. Nun war er dazu verdammt, sich selber eine Beschäftigung zu suchen. Lisa hatte sofort damit begonnen, die Kinder und Teile des Personals zu unterrichten. Anfänglich war er skeptisch, ob die sich die Vereinnahmung ohne Widerrede gefallen ließen. Die Skepsis war unbegründet. Selbst die Köchin kam nach der Arbeit mit einem alten Notizbuch, das sie wohl noch aus der Schule hatte, in den provisorischen Unterrichtsraum und lernte im Chor Vokabeln oder lauschte den Geschichten aus dem fernen Deutschland. Wie schon damals beim Kleinen Li, beeindruckte Hans der enorme Fleiß der Chinesen. Er schätzte sich nicht als faul ein, im Gegenteil, nach deutschen Maßstäben war er sogar fleißig. Doch diese Maßstäbe galten nicht in China. Er überlegt kurz, ob er auch unterrichten sollte, aber Hans‘ pädagogische Fähigkeiten waren eher mäßig und abgesehen davon, gab der Bildungsmarkt des Siheyuan nicht mehr viel her, seit Lisa ihn vollständig beherrschte. Die erste Zeit versuchte er sich darin, alle seine Erlebnisse in China aufzuschreiben. Doch auch das Schreiben war nicht sein Fall. Außerdem fühlte er sich noch nicht so alt, dass er schon an seine Memoiren denken mochte. In der Bibliothek standen einige englische und auch ein paar wenige deutsche Bücher, die er nach und nach alle gelesen hatte. Russisch, Italienisch und was da noch so rumstand, konnte er nicht und Chinesisch zu lesen, war nach wie vor eine einzige Qual für ihn. Dann half er der Köchin und ihrem Mann im Garten und beim Housekeeping, bekam aber schnell mit, dass er eher bremste und nur wenig zur Hilfe beitrug. Also schloss er das Kapitel auch wieder. Auf seinen ausgedehnten Wanderungen durch den Talkessel kam er dann auf die Idee, womit er seine Zeit sinnvoll verbringen konnte. Hans liebte schon immer die Fotografie. Selbst in Rostock hatte er viel fotografiert. Mit Ohlmer, welcher am liebsten Fotograf geblieben wäre, ging er in Tsingtau und Umgebung zusammen viele Male auf Fotopirsch. Durch ihn hatte er eine Menge über die Fotografie gelernt. Vermutlich mehr, als er in einer Fotografen-Ausbildung je lernen konnte. Über die Jahre hatte sich bei ihm eine Kamerasammlung nebst Fotozubehör etabliert, deren Wachstum Lisa argwöhnisch beobachtete. Also machte er sich daran, einen fensterlosen Raum im Nordteil des Siheyuan, der bislang als Gerümpelkammer diente, zu einer Dunkelkammer umzufunktionieren. Durch Kuriere und Li Li selbst, ließ er sich Filme, Papier, Chemie und gelegentlich Ausrüstung kommen. Er konnte in seinem Vorhaben so langsam und so gründlich zu Werke gehen, wie er sich das schon lange gewünscht hatte. Niemand hetzte ihn, kein Beruf, kein Termin oder gar Chef saß ihm im Nacken. Das erste Mal nach der Flucht genoss er die völlige Freiheit. Zuerst suchte er seine Motive beim Personal. Er porträtierte jeden, der wollte. Wer nicht wollte, den bearbeitete Hans, solange bis er auch den im Kasten hatte. Dann dehnte er seine Bilderjagd auf das Siheyuan und seine täglichen Abläufe aus. Lisa beim Lehren, Josephine beim Lernen, die Köchin beim Kochen, der Gärtner im Garten usw. Kein architektonisches Detail des Hofes blieb fotografisch jungfräulich. Auch die Stillleben, die er bislang verachtet hatte, fesselten ihn immer mehr. Am ergiebigsten war jedoch die kleine Welt des Talkessels. Sie bot eine unermessliche Fülle an Motiven, die nicht alle abzulichten, scheiterte vor allem an der Verfügbarkeit von Film und Trockenplatten. Hans sortierte seine Serien thematisch und Josephine versah sie mit der, wie sie fand, notwendigen Kalligrafie. Mit der Zeit stapelten sich hunderte Fotoalben in der Bibliothek. Li Li nahm gelegentlich welche mit und veröffentlichte sie für Hans in europäischen und amerikanischen Verlagen unter dem Pseudonym Berta Craven, was er irgendwann mal zu B. Craven abkürzte. Zu ihrer aller Überraschung verkauften sich die Bücher in Amerika gut, sodass sie unverhofft zu einem stetigen Einkommen gelangten, welches Li für sie verwaltete. Wenn Hans nicht gerade fotografierte, für die Photographische Rundschau Artikel schrieb oder in der Dunkelkammer stand, dachte er darüber nach, wie er seine nächsten Motive in Szenen setzen sollte. Am Abend berichteten Lisa und Hans sich gegenseitig, wie ihr Tag verlaufen war, welchen Schwierigkeiten sie begegnet waren und was sie demnächst tun würden. Ihre Welt war geschrumpft, doch sie fühlten sich gut. Sie waren glücklich.
Josephines Leben verlief auch im Siheyuan nicht ganz so frei, wie sie sich das ursprünglich gedacht hatte. Zum einen wurde sie, anders als Hans, in das tägliche Einerlei des Hofes einbezogen. Sie musste im Garten, in der Küche oder wo sie sonst gebraucht wurde, anpacken. Niemand sah in ihr eine privilegierte Europäerin, als die sich auch Josephine selbst nie sah, sondern als eine von ihnen. Wer so fluchen konnte, der musste chinesisch sein. Schon zwei Monate nach ihrer Ankunft zog der erste Privatlehrer ein. Ihre Eltern und Li ließen keine falschen Hoffnungen aufkommen. Sie waren zwar in der Diaspora, das hieß aber nicht, dass sie nicht alle schulischen Abschlüsse machen konnte. Also war sie neben dem Job der Hausangestellten auch noch die Schülerin und später Studentin, mit einem randvollen Arbeitspensum.
Li Li organisierte, dass Josephine inkognito nach Schanghai reisen konnte, wo sie die nötigen Examen ablegte. Als Frau mit einem fast akzentfreien Englisch und einem gänzlich akzentfreien Chinesisch erregte sie weder bei den Japanern noch bei den Briten und Franzosen Verdacht. Sie wäre zwar gerne öfter gereist, doch jede Reise bedurfte eines enormen logistischen Aufwandes. Passierscheine wurden gefälscht, Bestechungen flossen und immer musste man auf der Hut sein, dass nicht doch irgendjemand etwas gründlicher hinschaute.
Im Siheyuan gab es kein Radio. Dementsprechend bekamen sie dort oben fast nichts davon mit, was sich gerade in der Welt tat. Was Josephine dann auf den Touren lesen und hören musste, erschütterte sie mehr, als sie sich eingestehen mochte. Diesmal war es nicht irgendwie Krieg, sondern es war die Mutter aller Kriege. Sie war mit verschiedenen Nationalitäten aufgewachsen, ihre Mitschüler in Tsingtau kamen aus aller Herren Länder. Nun gingen sie sich gegenseitig an die Gurgel, als wenn es all diese Jahre nicht gegeben hätte. Die Welt musste verrückt geworden sein. Selbst Dichter, die sie über all die Jahre, seit sie lesen konnte, verehrt hatte, übten sich plötzlich in dumpfem, patriotischem Geschwurbel der primitivsten Art. Niemand, selbst der größte Feingeist schien vor dieser Seuche sicher. Sie hätte von all dem am liebsten nichts gehört und gesehen und sehnte sich in ihre kleine, aber heile Welt auf ihrem Berg zurück. Selbst Hans und Lisa gegenüber berichtete sie nur das Nötigste. Und auch Li Li hielt sich an die unausgesprochene Regel, die Eltern nicht unnötig zu beunruhigen. Irgendwann würden sie aus ihrem Versteck hervorkommen können. Dann war immer noch genug Gelegenheit, alles zu erfahren – falls sie das überhaupt wollten. Verdrängen und ignorieren war nun auch Josephines Devise.
Manchmal besuchte Meyerfeld zusammen mit Li Li die Hinrichs in ihrem Versteck. Die Familie genoss es, endlich wieder mit jemanden von außerhalb Deutsch sprechen zu können. Meyerfeld war nicht so zurückhaltend wie Li und Josephine. Er schilderte ihnen außerordentlich farbig die Revolution in Russland, von wo er gerade kam, und die Ungeheuerlichkeiten an der Westfront. Lisa und Hans hörten ihm kreidebleich und versteinert zu. Doch er spekulierte auch, dass der Krieg noch in diesem Jahr beendet sein werde. Hans wusste, dass Meyerfeld sich in solchen Dingen nie irrte. Nach seiner Ansicht wäre in einer absehbaren Zeit der Weg für Deutsche nach und von Deutschland wieder frei. Bis dahin wären gerade die Japaner ganz wild auf Kriegsgefangene, die sie sofort nach Japan zur Zwangsarbeit deportierten. Hans fragte sich ein weiteres Mal, wie Meyerfeld sich durch alle diese Unwägbarkeiten hindurchschlängelte.
Meyerfeld fragte Josephine, was sie studieren wollte, wenn der Tag gekommen sei. In Beijing wurden die ersten Frauen immatrikuliert und es würde nicht mehr lange dauern, bis auch in Schanghai die Schranken fielen. Falls sie denn in China bleiben wolle. Josephine war als kleines Kind zu Besuch in Deutschland gewesen. Das war das einzige Mal. Sie konnte sich kaum noch daran erinnern. Aber sie wusste, Deutschland war für sie ein fremdes Land. Viel fremder als China. Dennoch war die Verlockung groß, sich für Deutschland zu entscheiden. Es würde noch etwas Zeit vergehen, bis sie wieder Pläne machen konnten.
„Ich weiß nicht“, antwortete Josephine auf Meyerfelds Frage, „vielleicht sowas wie Marie Curie oder Ricarda Huch – oder beides?“
„Tja, was liegt dir näher, die Naturwissenschaft oder die Literatur? Übrigens muss eine Karriere nicht zwangsläufig in einen Nobelpreis münden“, bemerkte er spitz. „Zwischen den beiden Polen gibt es noch Medizin, Maschinenbau, Sinologie, Architektur und was weiß ich noch alles; Zoologie vielleicht – dann kannst du die Ernährungsgewohnheiten der Tian-Mu-Shan-Tiger erforschen“, stocherte Klaus Meyerfeld in einer alten Wunde. Hans wurde rot.
Etwas ernster fuhr Meyerfeld fort: „Ohne dich nerven zu wollen, aber so unendlich lange solltest du eine Entscheidung, selbst wenn sie vorläufig ist, nicht mehr hinausschieben. Es ist egal, ob du zwischendrin nochmal wechselst, aber meiner Meinung nach, solltest du wenigstens mit der Suche anfangen“.
Josephine kannte Meyerfeld gut genug, um zu wissen, dass diese Fragerei und seine Ansprache auf ein konkretes Ziel lossteuerten. Und so rückte er nach einer Weile mit der Sprache heraus: „Li und ich haben einen guten Freund, der in Leipzig Psychologie, Philosophie und Kunstgeschichte studiert hat. Sein Name ist Cai Yuanpei(36). Er hat zwar ziemlich viel um die Ohren im Moment, aber es ist uns gelungen, ihn das Jahr über, immer mal für ein paar Wochen, als Lehrer für dich zu gewinnen. In der übrigen Zeit wird ein Kollege von ihm seinen Lehrplan fortsetzen.“ Meyerfeld lächelte sie unschuldig an: „Ich nehme an, du bist begeistert!“
Lisa und Hans freuten sich ehrlich. Nachdem Josephine alle nötigen Voraussetzungen für eine höhere Bildung – auch auf dem Papier – erbracht hatte, vertrödelte sie ihrer Meinung nach die Tage im Siheyuan.
„Vielen Dank Onkel Klaus, was würde ich mit meiner überbordenden Freizeit auch sonst anfangen, als zu lernen. Da wäre mir ja glatt langweilig und die Decke fiele mir auf den Kopf. Du und Li, ihr habt mich gerettet. Danke! Danke!“, sagte sie dramatisch. Die gesamte Gesellschaft amüsierte sich über ihre Einlage.
Li sagte: „Liebe Schwester, ich erkenne ein besonderes Talent in dir. Vielleicht sollten wir Oper dem Lehrplan hinzufügen?“ Josephine stupste ihn an und intonierte ein wenig Shaoxing-Oper. Laut genug, dass die Köchin gelaufen kam, um nach dem Rechten zu sehen.
Das Ende ihrer erzwungenen Versteckspielerei kam, wie Meyerfeld es vorausgesagt hatte. Der Krieg ging im selben Jahr zu Ende und nach einer Wartezeit von zwei Jahren, konnten sie sich wieder frei im Lande bewegen, ohne dass sie Gefahr liefen, von irgendeiner Kriegspartei interniert zu werden. Mit der Revolution in Russland bot sich ein neuer Feind im Osten an. Auf den konzentrierten sich die ehemaligen Feinde nun mit ganzer Kraft. Dennoch zögerten die Hinrichs, aus dem Siheyuan auszuziehen. Hans war de facto arbeitslos. Sein alter Arbeitgeber, das Kaiserreich, existierte nicht mehr. Die preußische Verwaltung hatte für ihn in China keine Verwendung. Immerhin gelang es Meyerfeld, eine Abfindung und Nachzahlungen für ihn zu erwirken. Notwendig war dies nicht. Li Li hatte das kleine Vermögen der Hinrichs sehr sorgfältig angelegt. Hinzu kamen die regelmäßigen Einnahmen aus den Buchverkäufen. In ihrem Versteck hatten sie praktisch keine Kosten selber zu tragen. Als Li Li Hans und Lisa ihre Vermögensverhältnisse auseinandersetzte, wurde den beiden bewusst, dass sie bei ein bisschen Achtsamkeit nie mehr arbeiten müssten. Ihr Geld war in allen möglichen Ländern und Formen angelegt. Ein Rentierdasein zu führen, konnte sich das Paar nicht vorstellen. Sie wären gerne im Siheyuan geblieben und hätten gleichzeitig ihren Radius in die umliegenden Dörfer erweitert. Doch Li Li hielt das für keine gute Idee. Das Versteck würde vielleicht in der Zukunft wieder als ein solches, dann für andere Menschen, dienen müssen. Das war schließlich die Bestimmung, mit der es in längst vergangenen Zeiten errichtet wurde. Es nutzte nichts, sie würden nach Schanghai umziehen müssen. Nach beinahe sechs Jahren Einsiedelei sollten sie nun in eine Zweimillionenstadt umziehen. Josephine war kaum noch zu bremsen, Lisa und Hans blieben skeptisch.
An ihrem letzten Abend bat Li die beiden um ein Gespräch. „Warum so förmlich Xiao Li?“, fragte Hans. „Ich will nicht lange um den heißen Brei herumreden“, sagte Li Li gänzlich unchinesisch, „ihr wisst längst, dass ich für eine mächtige Organisation arbeite. Wobei arbeiten eigentlich das falsche Wort ist. Diese Organisation, wir nennen sie die Bruderschaft der Drei Siegel, sind meine Berufung und meine Bestimmung. Ihr braucht nicht alles über diese Vereinigung wissen, auch zu eurem Schutz, aber so viel solltet ihr wissen, dass wir immer auf der Seite der Gerechten stehen. Unsere Wurzeln reichen weit in die chinesische Geschichte zurück. Seit den Ming operieren wir nicht mehr offen. Wir waren der größte Feind der Qing, ohne dass die überhaupt wussten, dass es uns gibt. Zu uns gehörten über die Jahrhunderte viele bekannte Menschen, das ist heute nicht anders, wie ihr sicherlich schon geahnt habt. In dieser langen Zeit haben wir uns über den gesamten Planeten ausgebreitet und selbstverständlich sind nicht mehr nur Chinesen in unseren Reihen. Na ja, und es sind auch nicht nur Brüder, wir haben viele Schwestern“, Li lächelte sie an, „und auch dies schon seit Jahrhunderten. Auch wenn wir mit den Drei Harmonien einiges in der Geschichte gemeinsam hatten, haben wir mit denen nichts zu tun. Wie gesagt, wir sind die Guten. Das ist nicht einfach so dahingesagt. Wenn man etwas tiefer schürfen würde, könnte man bei vielen Ereignissen der Weltgeschichte unsere Handschrift wiedererkennen. Wenn man weiß, wonach man suchen muss.“ Er hielt einen Augenblick inne und überlegte. Dann fuhr er fort: „Obwohl zu uns die hellsten Köpfe und größten Geister einer jeden Epoche gehören, sind wir nicht unfehlbar. Da wir auch nur Menschen sind, wird sich das auch nie ändern. Wir hatten uns das Ende der Qing und den Beginn der Republik anders vorgestellt. Der große Krieg und der schnelle Aufstieg Japans kamen zwar nicht unerwartet, aber die Ausschläge, die diese Erschütterungen hatten, waren viel größer, als unsere besten Strategen je erwartet hatten. In den letzten zwei Jahren haben wir neue Prognosen angefertigt und die machen uns ein bisschen Angst. Wie gesagt, wir sind nicht perfekt, und hoffentlich irren wir uns, aber zurzeit gehen wir davon aus, dass Asien und etwas später auch Europa in einen neuen Kriegsstrudel hineingeraten werden. Wir stehen vor dem Ende der Welt, wenn es uns und unseren Verbündeten nicht gelingt, die schlimmsten Auswüchse zu dämpfen. Verhindern können wir diesen Konflikt nicht. Wir müssen uns auf den Sturm vorbereiten. Dazu gehört auch, dass wir Teile unseres Besitzes über die Welt verteilen wollen. Dafür brauchen wir Schatzhüter. Und jetzt kommt ihr ins Spiel. Wenn ihr euch dafür entscheiden könnt, dann möchte ich den Teil, der für Europa gedacht ist, in eure Obhut geben. Dieser Teil unseres Besitzes hat nicht nur einen hohen materiellen Wert. Der ideelle Wert ist für uns ungleich größer. Mal davon abgesehen, mangelt es uns auch nicht an Geld. So wie ich euren materiellen Besitz mit Hilfe der Bruderschaft gemehrt habe, tun wir dies in einem ungleich größeren Umfang mit den eignen Mitteln. Unter Umständen sind wir die vermögendste Organisation weltweit – ich weiß das nicht.“
Lisa und Hans hörten gebannt zu. Sie wussten schon lange, dass Lis Freunde einflussreich, mächtig und auch wohlhabend waren. Anders wäre ihr jahrelanger Aufenthalt in dem Siheyuan gar nicht möglich gewesen. Die Offenbarung, dass er sich einer Geheimgesellschaft angeschlossen hatte, überraschte sie nicht. Anders ging es in China gar nicht. Von den Drei Siegeln hatten sie nie etwas gehört, obwohl sich Hans früher mal, unter dem Eindruck der Boxer, für die chinesischen Geheimgesellschaften interessiert hatte. Was sie verblüffte, war der Umfang und der Einfluss dieser unbekannten Gesellschaft. Dass ihnen in dieser Organisation eine Rolle zugedacht war, war nur das i-Tüpfelchen auf Lis Beichte.
Li Li setze seine Rede fort: „Es handelt sich nicht um Geld, Wertpapiere oder Edelmetalle, sondern um Kunstgegenstände. Kurz bevor die Briten und Franzosen Yuanming Yuan(37) dem Erdboden gleichmachten, gelang es der Bruderschaft, große Teile der Schätze in Sicherheit zu bringen. Das Gleiche gilt für den kaiserlichen Schatz, der bei der Überführung von Jehol nach Beijing verloren ging. Wir haben die Diebe aufgespürt und ihnen die Beute vollständig abgenommen. Insgesamt circa 150.000 Einzelstücke davon allein 70.000 aus Jehol. Unsere Kunstexperten haben ein Register erstellt und dieses mit dem von Cixi verglichen. Die schlechte Nachricht ist, der weitaus größte Teil ist in den Westen und nach Japan verschwunden. Möglicherweise für immer. Falls das Ende der Welt nicht eintritt, dann werde ich alles daransetzen, dass diese Sachen aufgespürt werden und zurück nach China kommen. Und wer weiß, vielleicht sogar in den neu errichteten Yuanming Yuan. Die gute Nachricht ist, falls das jetzt nach Fatalismus klingt, dass wir nicht alles verloren haben. Dieser Schatz soll in Deutschland solange versteckt werden, bis die Bruderschaft beschließt, dass die Zeit für eine Rückkehr nach China gekommen ist.“
„Und wir sollen die Schatzhüter sein?“, fragte Lisa aufgeregt.
„Ja“, antwortete Li, „macht euch keine Sorgen, ein Versteck existiert bereits und auch für die Logistik ist gesorgt. Die Stücke befinden sich in versiegelten Transportbehältern, die unter Umständen hunderte von Jahren in widrigster Umgebung durchhalten. Eure Aufgabe wird es sein, den Schatz zu beobachten und Auffälligkeiten oder reale Gefahren rechtzeitig zu erkennen und natürlich zu melden. Die Leute, die während der Arbeiten am Versteck mit dem Schatz in Verbindung gebracht werden könnten, werden Deutschland für immer verlassen. Mal abgesehen davon, dass sie nicht wissen, was sie da verstecken. Mit der Zeit wird im wahrsten Sinne des Wortes, Gras über die Sache gewachsen sein – hoffe ich. Hier in China gibt es nur einen sehr kleinen Kreis Eingeweihter. Daher ist neben der Hut, auch die Fortsetzung der Tradition der Hüter wichtig. Das heißt, ihr werdet dieses Geheimnis und die damit verbundenen Aufgaben innerhalb der Familie weitergeben. In dieser Nacht schliefen Lisa und Hans nicht.
Geschirr klapperte, ein Kellner rief aus der Küche etwas Unverständliches. Hans Gedanken kehrten in die Gegenwart, ins Tientsin, zurück. „Ja“, sagte Hans, „die Arbeiten sind alle abgeschlossen. Es hat länger gedauert als ursprünglich geplant. Nun wissen nur noch Herr Mosse, meine Familie und sie hier von dem Gewölbe unter dem Brunnen. Wir werden unsere Wohnung in Berlin bald aufgeben und gänzlich nach Rostock beziehungsweise Hiddensee ziehen. Li Li sagte mir, Fräulein Reiling, dass sie meine Verbindung nach Berlin sein werden?“
„Ja, so ist es“, sagte sie, „ihr Sohn erzählte mir zwar nicht, um was es ganz konkret geht, aber immerhin soviel, dass es eine Sache der allerhöchsten Wichtigkeit für die chinesische Republik sei. Dem fühle ich mich verpflichtet. Li Li hat mich ausgewählt, weil ich mit Mosse als Verleger zu tun habe, wir uns gelegentlich in der jüdischen Gemeinde treffen und ich fließend Chinesisch spreche. Ich soll das Mosse-Palais im Auge behalten und alle Entwicklungen drum herum zeitnah analysieren. Meine Beobachtungen soll ich ihnen bei unseren regelmäßigen Treffen mitteilen. Wenn Gefahr in Verzug ist, werde ich jemanden aus ihrer Familie auf Chinesisch unterrichten und nach Möglichkeit Li Li selbst. So weit richtig, Herr Geheimagent?“, fragte sie mit einem Lächeln, das ihn ein wenig an Josephines erinnerte, wenn sie ihn necken wollte.
„Ganz genau so“, sagte Zhou Enlai für Hans.
Hiddensee 1926 …
Li Li und seine Frau Wen Qinyue hatten die Hinrichs das letzte Mal kurz nach der Geburt der kleinen Anne besucht. Ihr eigener Sohn Li Mi war sechs Jahre zuvor geboren worden. Hans und Lisa waren nun zweifache Großeltern. Die meisten Tage hatten sie gemeinsam auf Hiddensee verbracht. Li Li mochte die Insel, gleichwohl er sich nicht vorstellen konnte, dort zu wohnen. Das Wetter und besonders der Wind, hatten ihnen zugesetzt.
„Kommt der Regen hier auch mal senkrecht von oben?“, fragte Li. Sein Versuch, sich mit einem Regenschirm zu schützen, endete mit einem Drahtkunstwerk. Li und Qinyue setzte außerdem die trockene Hitze zu. Sie konnte es kaum fassen, dass frisch gewaschene Wäsche schon nach weniger als drei Stunden wieder hereingeholt werden konnte. Neben diesem positiven Aspekt machten ihnen gesprungene Lippen und die immer rauer werdende Haut zu schaffen. Dennoch saßen sie alle gemeinsam abends in ihren Strandkörben am Ostseestrand. Es war einer der besseren Sommer. Wenig Regen und wenn, dann war er herbeigesehnt. Dazu Sonne mit wunderschönen Quellwolken vor einem strahlend blauen Himmel. Die Künstler der neuen Republik zog es auf die Insel. Überall standen Staffeleien herum. Am Strand überboten sich die Strandkorbbauer gegenseitig mit ihren kunstvollen Werken. Junge Leute verkauften aus ihrem Bauchladen kalte Limonade und Bier. Li Li trank deutsches Bier, wenn auch nicht so gern, wie man das von einem Qingdaoer erwarten müsste. Überhaupt machte er sich wenig aus Alkohol. Selbst die erlesenen Weine, die Hans anbrachte, ließen ihn kalt. Ganz anders war Li Lis Verhältnis zum Sanddornschnaps. Er liebte das Getränk. Egal ob heiß oder eiskalt. Und Hans bekam das erste Mal Gelegenheit, Li beschwipst zu erleben. Also deckte er sich mit etlichen Litern auf der Insel ein. Was Li nicht bedachte, dass dieser Schnaps im übrigen Deutschland nicht sonderlich bekannt war. Der Versuch, die Flaschen über die Weingroßhandlung auf dem üblichen Weg nach China zu verschiffen, endete mit einer Beschlagnahme. Ein übereifriger Zöllner vermutete ein neues Opiumderivat in den Flaschen. Es war zu komisch. Im Zollbüro mussten Hans und Li beständig grinsen, was den Zollchef gänzlich aus dem Konzept brachte. Schließlich reichte es Li und er ließ die Fracht als Diplomatenpost deklarieren – nicht ohne, dem Zollchef eine Flasche Schnaps als Warenmuster dazulassen. Für kalte Abende, wie er sagte.
Nach den Entbehrungen und dem Trennungsschmerz von ihrem zur Heimat gewordenen China waren sie endlich wieder angekommen. Zwar pendelten sie regelmäßig zwischen Rostock und Hiddensee, aber wann immer sie es einrichten konnten, lebten sie auf der Insel. Umso mehr betrübten sie Meyerfelds und Lis Visionen. Sie würden ein weiteres Mal mit einer kleiner werdenden Welt zurechtkommen müssen. Die Zukunft tauchte wieder in einem ungewissen Nebel ab. Schade dachten sie, warum kann nicht mal etwas so bleiben, wie es ist?
33 Das Tientsin wurde 1923 vom ehemaligen Koch der chinesischen Gesandtschaft in der Kantstraße 130b (Berlin-Charlottenburg) eröffnet. Ganz in der Nähe, in der Kantstraße 118, befand sich der 1902 gegründete „Verein chinesischer Studenten“.
34 Zhou Enlai (周恩来) (*5. März 1898 Huai’an; †8. Januar 1976 Beijing) war ein wichtiger Führer der Kommunistischen Partei Chinas und der Premierminister der Volksrepublik China von 1949 bis zu seinem Tod. Er galt innerhalb der revolutionären Bewegungen und auch aus Sicht seiner politischen Gegner als intellektuell führender Kopf Chinas. 1920 zog er nach Frankreich, dort war er bei revolutionären chinesischen Studenten aktiv, trat 1921 der französischen kommunistischen Partei bei und bereiste halb Europa. Er wohnte eine Weile in Berlin.
35 Besser bekannt als Anna Seghers: „ … (*19. November 1900 in Mainz; †1. Juni 1983 in Ost-Berlin; gebürtig Netty Reiling, verheiratet als Netty Radványi) war eine deutsche Schriftstellerin. Anna Seghers war das einzige Kind des Mainzer Kunst- und Antiquitätenhändlers Isidor Reiling und seiner Frau Hedwig (geb. Fuld). Der Vater war Mitglied und anteiliger Bauträger der 1879 eingeweihten jüdischen neuorthodoxen Synagoge in der Mainzer Flachsmarktstraße. Sie besuchte ab 1907 eine Privatschule, dann ab 1910 die Höhere Mädchenschule in Mainz, das heutige Frauenlob-Gymnasium. Im Ersten Weltkrieg leistete sie Kriegshilfsdienste. 1920 absolvierte sie das Abitur. Anschließend studierte sie in Köln und Heidelberg Geschichte, Kunstgeschichte und Sinologie. 1924 promovierte sie an der Universität Heidelberg mit einer Dissertation über Jude und Judentum im Werk Rembrandts.
1925 heiratete sie den aus einer jüdischen Familie stammenden ungarischen Soziologen László Radványi, der sich später Johann Lorenz Schmidt nannte. Mit ihm hatte sie zwei Kinder. Das Ehepaar zog nach Berlin, wo es von 1925 bis 1933 im Bezirk Wilmersdorf wohnte. 1926 wurde der Sohn Peter geboren, der heute Pierre Radványi heißt. In der Weihnachtsbeilage 1924 der Frankfurter Zeitung hatte die junge Autorin ihre erste Erzählung Die Toten auf der Insel Djal mit Antje Seghers signiert. Die Erzählung Grubetsch erschien 1927 unter dem Künstlernamen Seghers (ohne Vornamen), worauf Kritiker einen Mann als Autor vermuteten. Das Pseudonym entlieh sie dem von ihr geschätzten niederländischen Radierer und Maler Hercules Seghers (der Name wurde auch Segers geschrieben).“ Aus https://de.wikipedia.org/wiki/Anna_Seghers
36 Cai Yuanpei (蔡元培) (*11. Januar 1868 in Shaoxing; †5. März 1940 in Hongkong) war ein chinesischer Pädagoge, Ethnologe und Rektor der Peking-Universität. Er war für seine kritische Bewertung der chinesischen Kultur bekannt und gilt dadurch als Mitauslöser der Bewegung des 4. Mai. Er begründete 1904 die Partei Guangfuhui (Gesellschaft des Wiedererstarkens) und wurde im folgenden Jahr Mitglied des Tongmenghui (Geheimbund von Sun Wen 1905 in Tokio gegründet). Nachdem er 1907 Philosophie, Psychologie, Kunstgeschichte und Völkerkunde an der Universität Leipzig studiert hatte, wurde er im Januar 1912 Erziehungsminister der provisorischen Republik China. Er gründete mehrere Schulen und Hochschulen in China, u.a. die renommierte China Academy of Art in Hangzhou.
37 Das war der Alte Sommerpalast mit seinen Kaiserlichen Gärten. Der Ort wurde im Oktober 1860 von englischen und französischen Truppen unter Führung von Lord Elgin zerstört und geplündert. Dies ist bis heute ein Stachel in der chinesischen Seele und steht als Symbol für die Barbarei des Westens. Victor Hugo schrieb voller Entsetzen an Captain Butler: „… One day two bandits entered the Summer Palace. One plundered, the other burned. Victory can be a thieving woman, or so it seems. The devastation of the Summer Palace was accomplished by the two victors acting jointly. Mixed up in all this is the name of Elgin, which inevitably calls to mind the Parthenon. What was done to the Parthenon was done to the Summer Palace, more thoroughly and better, so that nothing of it should be left. All the treasures of all our cathedrals put together could not equal this formidable and splendid museum of the Orient. It contained not only masterpieces of art, but masses of jewelry. What a great exploit, what a windfall! One of the two victors filled his pockets; when the other saw this he filled his coffers. And back they came to Europe, arm in arm, laughing away. Such is the story of the two bandits. We Europeans are the civilized ones, and for us the Chinese are the barbarians. This is what civilization has done to barbarism.
Before history, one of the two bandits will be called France; the other will be called England. But I protest, and I thank you for giving me the opportunity! the crimes of those who lead are not the fault of those who are led; Governments are sometimes bandits, peoples never.
The French empire has pocketed half of this victory, and today with a kind of proprietorial naivety it displays the splendid bric-a-brac of the Summer Palace. I hope that a day will come when France, delivered and cleansed, will return this booty to despoiled China.
Meanwhile, there is a theft and two thieves.“