Kapitel 19 – Räucheraal

Li CiWen, Rostock, 4. Februar 2004

Lis Telefon klingelte. „Der Engländer ist tot“, sagte Maren aufgeregt.
Li war irritiert. „Was ist los? Wie ist das geschehen? Woher weißt du das? Wer war das?“, sprudelte es aus ihm heraus.
„Ich habe keine Ahnung, was da los ist“, antwortete Maren. „Charlotte rief mich eben an und erzählte, dass ein Toter am Ostseestrand gefunden wurde. Die Polizei war schon in der Pension.“
Das war schlecht, dachte Li. Es würde schwierig werden, weiter unter dem Radar zu ermitteln, wenn das Objekt der Begierde von der deutschen Polizei seziert wurde. Seine größte Sorge war, dass er so gänzlich ahnungslos war, was den Wissensstand der Thomas betraf. Und nun tauchte – mit großer Wahrscheinlichkeit – eine dritte Partei auf. Es müsste schon ein gewaltiger Zufall sein, wenn es nicht auch der um den Schatz gehen würde. Als er Maren vor ein paar Tagen das erste mal traf, war ihm sofort klar, dass sein Leben nun eine bedeutende Wendung nahm. Sie war die Frau, auf die er über 50 Jahre gewartet hatte. Und er mochte sich täuschen, aber umgekehrt erkannte er die gleichen Gefühle.
„Okay, Maren. Am besten wäre es, wir treffen uns so schnell wie möglich. Kommst du ins Hotel?“
Eine halbe Stunde später stand Maren im Foyer. Sie gingen hinunter zum Stadthafen. Maren hakte sich bei Li unter.

Synagogentour

„Hast du irgendeine Idee, wer das gewesen sein könnte?“, fragte Li.
„Nein, nicht wirklich. Charlotte sprach von einem Chinesen, der auf der Insel gewesen sein soll. Bevor wir jetzt Stille Post spielen, solltest du Charlotte anrufen und sie ausfragen.“
„Das werde ich machen. Heute Abend. Ich finde, du solltest erst mal nicht zur Insel zurück. Wer immer der Mörder von Reginald Thomas ist, im Zentrum des Interesses steht sicher unser kleines Geheimnis und nicht die Thomas‘ oder wer auch immer. Ich kann mir gut vorstellen, dass die Triaden untereinander oder gar intern in einer Organisation einzelne Kämpfe ausfechten. Vielleicht wollte der Thomas ja sein eigenes Süppchen kochen. Die Gier vernebelte schon so manchem intelligenten Menschen das Hirn. „Es ist doch ein unersättliches Geschöpf, der Mensch.“ Schiller.
Maren parlierte: „Es ist kein Übel ärger als Begehren, kein Unheil böser als Sichnichtbegnügen, kein Fehler größer als Erwerbenwollen.“ Lao Tse.
Sie lachten und schmiegten sich noch enger aneinander. Trotz des dichten Schneetreibens, dem beißendem Wind und der ungewohnten Kälte wurde Li CiWen warm ums Herz.
„Ich werde nicht auf die Insel fahren. Hatte ich auch so nicht vor. Geht außerdem nicht, denn wegen Eisgang und Nullsicht, fährt die Fähre nicht mehr. Du brauchst dir keine Sorgen machen, dass Charlotte irgendwas verraten könnte. Sie ist noch nicht vollständig eingeweiht. Dass jemand die Chiffren in dem Siheyuan entdeckt, halte ich ebenfalls für ausgeschlossen. Und wenn doch, dann braucht es zur Entschlüsselung die Computerkapazität mehrerer Nationen. Die größten Unsicherheitsfaktoren sind im Moment wir beide. Halten wir uns am besten raus. Charlotte ist klug, sie weiß, um was es geht und wird sich entsprechend auf die Aufklärung stürzen. Die deutsche Polizei ist im Moment unser Verbündeter. Ich habe gerne Verbündete. Vielleicht behalten wir das bis zur Lösung unseres kleinen Problems bei?“
„Du hast recht“, sagte Li CiWen. „Wahrscheinlich ist das ganz oft so. Mein Großvater hat mir oft von den Hinrichs erzählt. Er schwärmte von der Klugheit seiner Schwester und den anderen Hinrichsfrauen. Nun bekomme ich eine Ahnung davon, was er meinte. Es ist eine Schande, dass wir uns erst jetzt kennenlernen. So vieles wäre anders gelaufen in meinem Leben. Und in deinem vielleicht auch?“
„Quatsch“, sagte Maren lachend. „Dann wäre Charlotte deine Tochter oder wie? Nein, mein Lieber, alles hat seine Zeit. Mit etwas Glück kommt jetzt unsere Zeit. Ich mein … wenn du willst.“
„Ich will!“, sagte er, „mehr, als du dir vielleicht vorstellen kannst.“
„So, und nachdem wir uns das Ja-Wort gegeben haben, wie wäre es mit einem Ausflug in die Mecklenburger Schweiz? Du weißt schon, wohin.“
„Alles klar!“, sagte er. „Das Wetter könnte nicht schlimmer sein, aber mich zieht es auch zu diesem Ort. Lass uns vorher im Hotel essen und dann werde ich als Location-Scout für chinesische Touristikunternehmen in Mecklenburgs vergessene Welt vordringen. Zusammen mit meiner attraktiven Assistentin.“
„Alles klar, Professor Challenger“

Synagogentour

Unter normalen Verhältnissen brauchte man eine Stunde für die Strecke. Doch diesmal fuhren sie über drei Stunden. Ihnen wurde nicht langweilig. Sie hatten sich viel zu erzählen. Die Letzte, die regelmäßig mit den Chinesen Kontakt hatte, war Josephine. Anne versuchte immer mal wieder, persönlichen Kontakt zu halten, doch mit dem Mauerbau endeten das abrupt. Nach dem Tod von Li Li 1974 schliefen auch alle schriftlichen Kontakte ein. Maren war später immer mal wieder in China gewesen, wie auch Li CiWen in Deutschland. Beide hatten öfter darüber nachgedacht, den anderen zu besuchen. Doch stattdessen schlichen sie all die Jahre umeinander herum, bis die Bruderschaft sie mit Schwung kollidieren ließ. Li CiWen erzählte ihr vom Großvater Li Li, seinem etwas glücklosen Vater Li Mi, seiner verunglückten Ehe, der Tochter in den USA und den Umständen, die ihn nach Xiamen verschlagen hatten. Marens Geschichte war ähnlich lang und kompliziert. Sie hatte zwar nicht geheiratet, aber mit dem Vater von Charlotte trotz allem fast dreizehn Jahre verbracht, bis beide sich endlich eingestanden, dass die Beziehung nicht mehr funktionierte. Eine Trennung erschien beiden das Beste. Auch für Charlotte. Als die Mauer fiel, wurde wenig später das Siheyuan an die Hinrichs rückübertragen. Obwohl der Pensionsbetrieb nie dazu gedacht war, den Lebensunterhalt der Familie zu finanzieren, lief seit der Wende der Betrieb so gut, dass sie sich dem etwas mehr annehmen mussten. Doch weder Anne noch Maren und erst recht nicht Charlotte waren bereit, hundert Prozent ihrer Zeit Gastronom zu spielen. In ihrem tiefsten Innern waren sie Bücherwürmer, Wissenschaftlerinnen und Arbeiter für die Drei Siegel. Der Gastrojob war und blieb ein Hobby. Daher hatte sie schon seit Anfang des Jahres eine Stelle als Hotelmanager mit Erfahrung ausgeschrieben. Ursprünglich war die Zeit, die Anne ihr Hörgerät erhielt und sie in Rostock war, auch dazu gedacht, einige Bewerbungsgespräche zu führen. Dann kam Li CiWen.

Synagogentour

Sie parkten das Auto auf dem überdimensionierten Parkplatz an der Bundesstraße. Von dort ging es über eine Allee, vorbei an einem Obelisken, zur Burg hinauf. Ihr Auto war das Einzige auf dem riesigen Areal. Wenn es so weiter schneite, würden sie es bei ihrer Rückkehr ausgraben müssen. Der Gasthof direkt neben dem Parkplatz war erwartungsgemäß geschlossen. Auch auf der Burg würde zu dieser Jahreszeit niemand sein. Die ganze Gegend döste seit dem 30-Jährigen Krieg vor sich hin, nur um jährlich in den zwei kurzen Sommermonaten wachgeküsst zu werden.
Wenn Li mal ein echter Tourism-Location-Scout werden sollte, dann würde er mit dieser Schweiz einen Schatz heben. Wohlhabende chinesische Touristen, die in Warnemünde mit dem Kreuzfahrer ankamen und dann für mehrere Nächte in den luxuriösen Hotels in den mecklenburgischen Schlössern der Schweiz und im Nationalpark unterkamen, früh morgens mit den Rangern Wildwanderungen unternahmen, frische Forellen mit Pellkartoffeln aßen und auf den ausgedehnten Wanderungen Hünengräber besuchten. Allein das leicht zu haltende Versprechen, überall frische und saubere Luft atmen zu können, würde sein imaginäres Unternehmen durch die Decke gehen lassen.

„An was denkst du gerade?“, stieß Maren hervor, die mit Mütze, Schal um den Kopf und langem dickem Mantel, wie ein Inuit aussah. Nur zwei Augen schauten aus der Verpackung hervor. Li CiWen war weniger clever in seiner Kleiderwahl gewesen. Er hatte nur die Drivers-Cap und den Trenchcoat. Er fror, sowie er stehen blieb. Also stapfte er mit seinen Halbschuhen durch den hohen Schnee.
„Ich habe gerade daran gedacht, ob ich ewig Polizist sein möchte. Ich meine, ohne falsche Bescheidenheit, ich bin ziemlich gut in dem Job und ich habe sicher auch ein besonderes Talent. Ein Holmes-Gen sagt Lim Tok. Aber ich weiß nicht, immer wieder aufs Neue in menschliche Abgründe zu schauen, ist auf Dauer deprimierend. In Xiamen sind mir nie solche Gedanken gekommen. Als ich mit Lim Tok in Hong Kong, wie in alten Zeiten, Räuber und Gendarm spielte, da kamen mir schon Zweifel. Doch bis dahin sah ich keine offenen Möglichkeiten. Jetzt ändert sich das gerade. Es ist nichts Konkretes. Ich tagträume nur ein bisschen. Außerdem denke ich, dass ich mehr Potenzial für die Drei Siegel hätte, als man mir bisher abverlangte. Das ist mir wieder klar geworden, bei dieser Familiengeschichte. Ich bin vielleicht nicht wie Großvater, aber ich habe das Gefühl, dass ich lange Zeit schaumgebremst lebte. Möglicherweise habe ich mich selber gebremst. Ich bin in ein gemachtes Nest gefallen, im Gegensatz zu Li Li. Erwirb es, um es zu besitzen. Weißt schon,“ schloss Li seinen etwas kryptischen Monolog.
Sie ließen die Burg und die Kapelle rechts liegen und gingen auf dem Weg weiter zum Arboretum. Nach einem kurzen Hohlweg eröffnete sich ihnen ihr Ziel, beziehungsweise nicht, denn es war komplett eingeschneit. Li hatte insgeheim gehofft, ein paar schöne Fotos machen zu können, doch vor ihnen lag ein riesiger Schneeberg.

Maren sagte: „Na ja, hier hat sich die letzten 70 Jahre nichts getan. Wusstest Du eigentlich, dass der, der dieses Ding hier entworfen hat, auch die Orden für die Deutschen entwarf, die von Tsingtau aus die Boxer niederschlagen halfen?“
„Nein, das wusste ich nicht. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie. Es scheint mir fast so, als wenn ein gemeinsamer Freund, der für seinen schrägen Humor bekannt ist, dahintersteckt.“
Maren sagte: „Ich war vor fünf Jahren mal auf einem Ausflug hier. Ganz in der Nähe war eine Verlagskonferenz, zu der ich eingeladen war. Ein wunderschönes Hotel in einem Schloss, direkt am See. Das ist keine fünf Kilometer von hier. Was denkst du – drei Stunden zurück nach Rostock oder zehn Minuten in ein Seeschloss?“
„Wo Xingaide(44), es gibt nur wenige Entscheidungen, die so einfach zu treffen sind. Lass uns bei einem Glas Wein im Schloss die einfachen Dinge ehren,“ sagte Li CiWen.

Das Schlosshotel hatte etliche Zimmer frei. Sie waren fast die einzigen Gäste. Eine geplante Firmengruppe aus München war auf der A9 im Schnee stecken geblieben und hatte sich kurzerhand in einem Hotel an der Autobahn eingemietet. Ein Glücksfall für sie, denn so bekamen sie das Residenzzimmer zu einem kleinen Preis. Die Küche war in Erwartung des Ansturms voll besetzt und das reichliche Personal umschwänzelte die wenigen Gäste.
Spät am Abend rief Li CiWen Charlotte auf ihrem Handy an. Sie erzählte ihm alles, was sie wusste und was gerüchtet wurde. Sie schloss damit, dass die Kriminalhauptkommissarin in diesem Augenblick bei den Reeschs im Hendricks war, wo Reg Thomas zuletzt gesehen wurde. Li hatte das Telefon laut gestellt und Maren hörte interessiert mit. Anschließend sprach Maren noch mit ihrer Tochter. Li ging so lange auf den Balkon und sah dem Schneetreiben zu. Wenn das so weiterging, würden sie hier einschneien. Das wäre mal eine neue Erfahrung, die er im subtropischen Xiamen beim Schach im Park zum Besten geben konnte. Gede, eingeschneit in einem Schloss im Wald am See in einer fast menschenleeren Gegend. Das glaubte ihm niemand. Er würde morgen ein paar Fotos machen müssen.
Der nächste Morgen begrüßte sie so, wie sie der Abend verabschiedet hatte, Schneetreiben, wenn auch etwas weniger heftig, und Kälte. Der kleine See vor dem Hotel war zugefroren. Auf dem Eis lag eine dicke Schneeschicht. Nur durch die umstehenden Bäume war überhaupt zu erkennen, dass vor ihnen ein See lag. Die erfreuliche Nachricht war, dass der Winterdienst die Straße bis zur Autobahn freigehalten hatte. Doch schnell würden sie nicht vorankommen. Die Autobahn war zwar befahrbar, aber auch hier mussten sie Zeit mitbringen. Vier Stunden nach Rostock schätzte der Concierge: „Ich schlage vor, dass Sie sich mit dem Frühstück Zeit lassen. Sie können gerne nach den avisierten elf Uhr auschecken. Je später Sie losfahren, desto freier wird die Straße sein. Außerdem werde ich die Küche anweisen, ihnen ein paar Lunchpakete zu packen. Haben Sie irgendwelche Wünsche bezüglich der Lunchpakete?“ Sie verneinten beide.

Maren grinste in sich hinein. Noch vor wenigen Jahren hätte sie im örtlichen Dorfkrug nur mit etwas Glück eine rote Brause und eine Packung Hansakekse bekommen. Wahrscheinlich wäre sie auch angemuffelt worden, wenn sich der Schnee von ihren Schuhen als Pfütze über den Kneipenboden verteilt hätte. Sie wollte gar nicht überheblich sein. Auf Hiddensee hatte sie in der eigenen Pension diese Hinwendung zum echten Service erleben können. Plötzlich musste man keinen Mangel mehr verwalten und konnte aus den Vollen schöpfen. Zumindest bis zu dem Augenblick, in dem man erkannte, dass plötzlich alles, auch die Freundlichkeit, ein Preisschild hatte.
CiWen und Maren gingen eng umschlungen zum See hinunter. Zwei frisch Verliebte im dichten Schneetreiben. Jede gemeinsam verbrachte Nacht schob ihre unterschiedlichen Welten ein Stück weiter aufeinander zu.

Wie vom Concierge empfohlen, ließen sie sich beim Frühstück alle Zeit der Welt. Das Angebot war üppig und Li CiWen entdeckte ein paar Sachen, die er so noch nicht kannte. Räucheraal in Aspik, zubereitet im Ort, stürmte sofort seine europäischen Food-Charts. Leider konnte er sowas nicht mit nach China nehmen. Der chinesische Zoll verstand da leider wenig Spaß. Er würde das Rezept ausfindig machen und dann in China alles selber zubereiten. Das hatte er schon mit anderen Sachen getan, Räuchern zum Beispiel. Es gab in Xiamen nicht die Räuchertradition, wie an der deutschen Küste. Er hatte sich kurzerhand einen Ofen selbst gebaut und dann mit verschiedenen Räuchermehlen experimentiert. In Guizhou wurden viel Tofu, Blutklopse und Schweine geräuchert. Das Mehl war, angereichert mit ein paar europäischen Gewürzen, brauchbar für seine Zwecke. Gelegentlich brachten ihm Kollegen oder Freunde einen Sack Buchenmehl aus Europa mit. Erstaunlicherweise hatte der Zoll damit keine Probleme. Aal gab es ebenfalls in Xiamen. Somit blieb nur die Sülze, und das konnte kein unlösbares Problem sein. Das einzige – bislang unlösbare – Problem war der deutsche Sauerteig. Das Klima in Xiamen war offenbar nicht geeignet für die Herstellung. Ihm vergammelte regelmäßig der angesetzte Teig. Er fragte sich einmal mehr, wie die Deutschen in Kiaoutschou und Tsingtau das hinbekommen hatten. Vielleicht hatten Hans und Lisa oder Li Li darüber etwas in ihre Tagebücher geschrieben. Er würde dem nachgehen. Irgendwann.

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