Kapitel 10 – Nudelimbiss

Li CiWen, Hong Kong, Frühlingsfest 2004

Li hatte, trotz leichter Dünung, ausgezeichnet geschlafen. Vielleicht aber auch genau deshalb. Das Boot hatte ihn nach dem gestrigen Bier und wohl auch etwas Baijiu, in den Schlaf gewiegt. Aber nicht nur das, der Schlaf behielt ihn auch bis zum Morgen bei sich. Normalerweise sorgte Alkohol dafür, dass er in aller Frühe aufwachte und dann nicht mehr einschlafen konnte. Es war acht Uhr durch. Später als gedacht. Es gab eine Vereinbarung, dass Kollegen vom Mainland sich bei Amtsgeschäften in der entsprechenden Behörde anmeldeten. Insbesondere dann, wenn sie mit der Dienstwaffe in der Sonderverwaltungszone umherliefen. Er musste dringend zur Yau Ma Tei Police Station. Natürlich würde er dort nicht sein tatsächliches Anliegen vortragen. Dann hätte er gleich seine Visitenkarte bei den Triaden abgeben können. Der Legende nach, sollte er einen neureichen Chinesen ausfindig machen, der sich mit dem Firmengeld, inklusive fälliger Steuern, nach Hong Kong abgesetzt hatte. Diese Geschichte war dieser Tage so gewöhnlich, dass keine Triade auch nur eine Augenbraue gehoben hätte. Li CiWen und Lim Tok fuhren an Land und von dort mit Lims altersschwachem Toyota weiter über die Route 1 nach Kowloon. Lim wartete auf dem Parkplatz vor dem Gebäude. Er hätte zwar mit hineingehen können, wollte jedoch nicht. Zum einen waren kaum noch Kollegen aus seiner aktiven Zeit da und zum anderen kam er als Privatdetektiv der Polizei oft genug so nahe, dass Reibungsverluste nicht ausblieben. Mit einem Mainland-Polizisten in Verbindung gebracht zu werden, nährte nur deren Vorbehalte. Also blieb er sitzen und beobachtete den Besucherstrom vor der Station. Einen Tag vor dem Jahr des Affen, hatten offensichtlich viele Bürger Hong Kongs noch etwas mit der Polizei zu klären. Der Betrieb war enorm. Nicht weit von ihm stand ein Schwarzer Buick GL8 mit getönten Scheiben. Offensichtlich wartete auch in ihm einer auf jemanden, der gerade im Gebäude zu tun hatte. Und genau wie Lim, schien er eine Zigarette nach der anderen zu rauchen. Hin und wieder stieg Rauch aus dem Fensterschlitz auf.

Hong Kong

Li CiWen hatte nicht lange gebraucht. Die Legende hatte keine weiteren Fragen aufgeworfen. Lediglich eine Ermahnung, dass der Gesuchte, so er denn gefunden wurde, an die Hong Kong Police zu überstellen, beziehungsweise von der zu verhaften sei, konnte sich der Kollege nicht verkneifen. Lis Befugnisse beschränkten sich auf das Aufstöbern und gegebenenfalls kurze Festsetzen. Von da an würden die Hong Konger übernehmen. Da man schon genug mit der eigenen Kriminalität zu tun hatte, war es ihnen nur recht, wenn sich das Mainland selbst um flüchtige Steuerhinterzieher kümmerte. Dass derjenige dann tatsächlich in die Volksrepublik gelangte, war eher unwahrscheinlich. Li kannte die Spielchen schon. Man einigte sich meist darauf, dass das sichergestellte Geld wieder zurückfloss. Der ehemalige Firmenboss mit dicker Hose konnte sich dann den Rest seines Lebens am Nudelimbiss seine Miete in Hong Kong verdienen. Li fand diese Form der außergerichtlichen Einigung hart, aber auch gar nicht so schlecht. Es war absehbar, dass man mit dem Nudelkochen irgendwann in Hong Kong seinen Lebensunterhalt nicht mehr bestreiten konnte. Schon jetzt gab es Gegenden, wo die Wohnsituation an die in der ehemaligen Walled City erinnerte. Coffin Cubicles nannte man diese neue Wohnidee. Um die 100.000 Hong Konger sollen in ihnen leben. Darunter nicht wenige, die aus verschiedenen Gründen die Volksrepublik verlassen mussten. War man erst mal da unten angekommen, ging es nicht mehr viel tiefer. Von Coffin zu Coffin, dachte Li CiWen.

Hong Kong

Sie fuhren von Kowloon wieder zurück auf die Insel nach Wan Chai ins Hibiskus. Lim wollte dort Calvin Chong treffen. Calvin ging offiziell einem bürgerlichen Beruf nach. Er war Marketingchef in der Hong Konger Niederlassung eines amerikanischen Magazines. Doch das war mehr oder minder seine Tarnung. Für diesen Job brauchte er weniger als zwei Stunden die Woche. Tatsächlich war er damit beschäftigt Schuldner ausfindig zu machen. In gewisser Weise ein Kollege von Lim Tok. Im Gegensatz zu Lim interessierte ihn nicht, wer ihn für die Jobs bezahlte. Er machte ja nicht das Inkasso – lieferte nur eine Adresse und das war es. Natürlich war ihm klar, dass die Auftraggeber überwiegend aus der organisierten Kriminalität stammten und dass seine Arbeit unangenehme Folgen für den Gesuchten hatte. Calvin Chong war über die Jahre immer erfolgreicher geworden und die Menge an Aufträgen sorgte dafür, dass er zunehmend mehr Einblicke in die Organisation seiner Auftraggeber bekam. Nicht selten war einem Clan-Chef daran gelegen, dass andere Chefs nichts von dessen Problem mitbekamen. Gelegentlich suchte er keine Schuldner, sondern entlaufene Konkubinen, Männer die mit den Konkubinen anbandelten, gute Freude der Ehefrau und so weiter. Calvin Chong war nicht dumm. Er konnte sich mithilfe seiner Erkenntnisse einiges zusammenreimen. Lim Tok mochte Calvin nicht. Er hielt ihn für einen Psychopathen. Noch mehr störte ihn, dass er im Restaurant seiner Mutter ein und ausging. Dennoch hatte er ihn in der Vergangenheit immer mal wieder angezapft. Meist dann, wenn seine Fälle in die Triadenwelt reichten. Auch diesmal musste er an Calvin ran. Seiner Mutter hatte er aufgetragen, ihn sofort zu benachrichtigen, wenn Calvin Chong im Hibiskus auftauchte. Das war gerade geschehen. Als sie im Hibiskus ankamen, saß Calvin noch da. Weit hinten im Restaurant, allein an einem Tisch.

Hong Kong

„Hallo, Calvin“, begrüßte ihn Lim. „Na, gar keine Lust auf Frühlingsfest im Kreis der Familie?“
„Idiot!“, antwortete Calvin statt einer Begrüßung.
Lim grinste ihn an. Er fuhr fort: „Aber gut, dass wir dich hier treffen. Mein Kollege hier sucht einen Boss aus der Volksrepublik, der mit der Firmenkasse durchgebrannt ist. Wir haben gehört, dass er hier was zu veräußern hat. Deine speziellen Freunde sollen sehr interessiert sein und schon ein Familien-Treffen organisieren.“
Die Ansprache war so plump und triefte schon mit dem ersten Wort nach Lüge, dass Lim sich mühen musste ernst zu bleiben. Li CiWen war diese Dreistigkeit sichtlich unangenehm.
„Ach ja, ein entlaufener Firmenheini aus Rotchina? Ich glaube, das ist die am schnellsten wachsende Bevölkerungsgruppe Hong Kongs. Muss hinter der Grenze ein neues Hobby sein. Sehr naheliegend, dass der was hat, was bestimmte Kreise unbedingt wollen.“ Er glaubte ihnen kein Wort. Immerhin war die Form gewahrt.

Hong Kong

Wenn Calvin etwas für Lim tat, dann wollte er für seinen Dienst niemals Geld. Wahrscheinlich hatte er eh genug davon. Die einzige Währung, die Calvin von ihm akzeptierte waren Informationen. Schon früh hatte Lim klargestellt, dass er Adressen von irgendwelchen armen Schweinen nicht einfach ausplaudern würde. Daran war Calvin Chong nicht interessiert. Für ihn waren Informationen jeglicher Art, vor allem aus dem Polizeisektor wichtig. Nach Lims Meinung vervollständigte er damit die Kenntnisse über seine Auftraggeber. Vermutlich plante Calvin Chong sehr weit in die Zukunft hinein. Etwas, was man vielen Hong Kongern nicht zutraute. Lim war plötzlich abgelenkt. Er schaute irritiert aus dem Fenster. Eben fuhr der Buick, mit dem er zusammen heute Morgen drüben in Kowloon gewartet hatte, langsam am Fenster vorüber. Calvin Chong folgte seinem Blick, sagte jedoch nichts. Der Wagen fuhr die Straße hinunter und verschwand irgendwann aus dem Blickfeld.

Aberdeen, Hong Kong

Könnte ein Zufall sein, dachte Lim, aber wahrscheinlich ist das nicht. Lim war beunruhigt. Calvin Chong schaute Lim Tok aufmerksam an und versuchte, ihm direkt in die Augen zu sehen. Das war etwas, was die meisten Chinesen nicht leiden konnten – Lim auch nicht. Lim hatte ein mieses Gefühl und ihm war Calvin Chong unheimlich.
„Also gut“, fuhr Calvin Chong fort, „ja, es wird ein Treffen einiger alter Clans geben. Meines Wissens nur die, die vor der Gründung der Republik entstanden sind. Die anderen stehen nicht auf der Gästeliste. Wenn ich recht informiert bin, dann kommen auch verfeindete Clans zusammen. Euer CEO muss ja was Dolles haben“, stichelte Calvin. „Das Treffen soll morgen auf Lamma in einem Kloster in der Nähe von Cui Mo, etwas oberhalb der alten Silbermine stattfinden. Vielleicht wollen die ja zusammen die Glocke läuten und für ein friedvolles Jahr des Affen beten. Wer weiß das schon“, schloss Calvin Chong. „Ich muss jetzt los. Nach den Feiertagen werde ich mich bei dir melden, mein lieber Lim Tok“, verabschiedete er sich.
„Das ist ja ein unangenehmer Zeitgenosse“, sagte Li CiWen, als Calvin Chong das Restaurant verlassen hatte.

Aberdeen, Hong Kong

„Ja, unangenehm auch, aber vor allem unheimlich. Aber er hat uns ohne große Oper ein Geheimnis verraten, das wahrscheinlich zu den bestgehüteten dieser Stadt gehört. Ich werde aus dem Mann nicht schlau“, sagte Lim. „Egal wie, wir haben alle Informationen, die wir brauchen. Meine geliebte Nikon F3p wartet schon darauf, aus dem Schlaf geweckt zu werden.“ Lim machte eine kurze Pause: „Das solltest du noch wissen, eben ist am Fenster ein schwarzer Van vorbeigefahren, den ich heute Morgen bereits vor der Polizei gesehen habe. Kann belanglos sein, aber ich habe da so meine Zweifel.“
Lim Toks Mutter brachte Taiwan Beef Noodles an den Tisch. Sie aßen still. Danach besprach Lim ein paar Sachen mit seiner Mutter in der Küche. Anschließend fuhren sie zurück nach Aberdeen. Gerade als sie von der Route 1 abbogen, überholte sie der schwarze Van. Beide erkannten sie augenblicklich die Gefahr. Dies war garantiert kein Zufall mehr. Der Wagen zog rechts knapp an ihnen vorbei und stellte sich dann quer. Lim Tok wusste, was nun kam. Und tatsächlich, das Fenster wurde heruntergelassen und ein Lauf kam zum Vorschein. Geistesgegenwärtig zog Lim nach rechts auf die Gegenfahrbahn. Sein Plan war, durch eine Seitengasse zu türmen. Der Van war schneller und setzte einfach zurück auf die rechte Fahrbahnhälfte. Der hat Nerven, dachte Lim noch. Die Einfahrt zur Gasse war versperrt. Dann sahen beide das Mündungsfeuer aufblitzen. Sie hatten keine Gelegenheit, ihre eigenen Waffen zu ziehen. Der Van bog auf die rechte Fahrspur ein und fuhr ganz langsam an dem Toyota, der mit abgewürgtem Motor regungslos dastand, vorbei. Die Fenster des Buicks waren wieder geschlossen.

Aberdeen, Hong Kong

Erst da wagte es Li CiWen, auszuatmen. Sie waren beide unverletzt. Auch im Wagen waren keine Einschusslöcher. Der Schütze hatte auf die Straße kurz vor den Toyota gezielt.
„Aha“, sagte Lim, „die wollen also nur spielen. Einen toten Polizisten aus der Volksrepublik und einen Ex-Polizisten der Königin wollten die wohl nicht riskieren. Noch nicht. Deutlich genug war es trotzdem. Ich frage mich, wie die so schnell auf uns gekommen sind?“
In Sichtweite hielt ein weißer Nissan Elgrand. Der Fahrer musste das Desaster mit angesehen haben. Eine Frau stieg aus. Sie trug eine Sonnenbrille, die das halbe Gesicht verdeckte. Die Insektenfrau kam eilig auf sie zu. „Ist ihnen was passiert? Brauchen Sie Hilfe? Soll ich die Polizei rufen?“, sprudelte es aus ihr hervor.
„Nein, alles gut“, sagte Lim Tok, „wahrscheinlich nur ein Besoffener, der das für einen Silvesterscherz hält.“
„Das kam mir nicht wie ein Scherz, sondern eher wie ein Anschlag oder genauer wie ein Anschlagsversuch vor,“ antwortete sie prompt. Irritiert sah sie auf die Revolver, die die beiden kurz nach dem Knall aus ihren Holstern genestelt hatten.

Hong Kong

„Keine Angst, wir sind die Guten“, beantwortete Li ihren fragenden Blick. Gleichzeitig wunderte sich Li, dass die Frau so gefasst war. Hatte man sich in Hong Kong an derlei Vorfälle schon so gewöhnt? In Mainland würde eine Zeugin schreien und die Nachbarschaft zusammenrufen. Diese Frau hingegen stellte die richtigen Fragen und zog die richtigen Schlüsse. Er war auf der Hut. Auch Lim war angespannt. Sie hatte keine Tasche dabei und unter einem engen Kleid trug man für gewöhnlich kein Holster. Blieb nur das Strumpfband mit der Derringer. Li CiWen grinste ungewollt bei dem Gedanken. Eine direkte Gefahr schien sie nicht darzustellen, schlussfolgerte er. Lim dachte das Gleiche.
Er sagte zu ihr: „Danke für ihre Hilfe. Wir wissen Zivilcourage immer zu schätzen. Wir sind von der Polizei und bei einer verdeckten Ermittlung aufgeflogen, was leider unleugbar ist. Tja … Wir werden das mit unseren Vorgesetzten klären. Vielleicht können Sie mir ihre Telefonnummer geben, damit man sich nach Abschluss der Angelegenheit bei Ihnen bedanken kann?“
„Klar“, sagte sie, ohne zu zögern. „Hier ist meine Karte. Teresa Wen, Immobilienmaklerin, Mong Kok.“ Neben diesen Angaben stand noch ihre Telefonnummer auf der Karte. Sie ging zurück zu ihrem Wagen und fuhr Richtung Route-1 davon.

Hong Kong

„Ich hätte da eine Theorie“, sagte Li, „warum die uns so schnell aufgestöbert haben. Die wissen sicher längst von der SoKo in Xiamen und damit von mir. Also brauchten sie nur geduldig mit einem Bild von mir in Yau Ma Tai warten, bis ich auftauchte. Dann haben sie gesehen, in welchen Wagen ich eingestiegen bin und ihre Hausaufgaben gemacht. Verdammter Mist! So schnell sind wir noch nie aufgeflogen. Ich glaube, wir werden alt – oder?“
Lim Tok war übel gelaunt und hatte immer noch genügend Adrenalin im Blut. „So schnell gebe ich nicht auf!“, sagte er trotzig. „Ich habe eine Idee, wie wir das wieder ausbügeln können. Ich muss mir das nur nochmal vollständig durch den Kopf gehen lassen. Auf jeden Fall sollten wir jetzt erst mal zum Boot zurückfahren. Wie ich die Brüder kenne, waren die auch schon da und haben ein wenig Technik installiert.“ Lim Tok grinste grimmig.
Sie fuhren zum Parkplatz und setzten dann mit dem Dingi zur Dschunke über. Lim Tok hatte recht. Das Boot war gründlich verwanzt worden. Aus vergangenen Erfahrungen hatte er gelernt und irgendwann einmal geheime Kameras an den Masten, in den Kammern und an weiteren strategischen Punkten installiert. Deren interner Speicher vermochte circa vierundzwanzig Stunden in leidlicher Qualität aufzunehmen und wurde dann automatisch wieder neu beschrieben. Li CiWen war etwas angesäuert. Er flüsterte Lim ins Ohr: „Hättest du mir sagen können, dass du den Laden hier verkabelt hast.“ Lim Tok wiegelte ab und flüsterte zurück: „Glaub mir, mich interessiert der Inhalt für gewöhnlich nicht. Ich hatte die Kameras schon beinahe vergessen. Vor einiger Zeit hatte ich ein ähnliches Problem, da habe ich die installiert. Wir werten jetzt eh nur alles aus, was sich ab unserer Abreise getan hat. Kannst dich beruhigt zurücklehnen.“

Walla Walla

Ungefähr zu der Zeit, zu der sie im Hibiskus saßen, war ein Trupp angerückt und hatte unter dem Tisch an Deck, auf der Brücke und jeweils in den Kammern Wanzen platziert. Das Ganze geschah etwas hektisch und die Leute waren offensichtlich nicht vertraut mit dem Geschäft. Ihre Gesichter ließen sich erkennen und selbst die körperumspannenden Drachen-Tattoos waren nicht zu übersehen. Doch dann geschah etwas Merkwürdiges. Kurz nachdem die Triaden fertig waren, kam ein weiterer Trupp. Wie Ninjas maskiert, gingen sie gezielt und sehr effizient vor. Zwei Leute von ihnen sicherten die Operation ab. Kein Wort fiel und in wenigen Minuten waren sie fertig. Sie waren tatsächlich zweimal verwanzt worden. Lim und Li hatten so was schon oft genug gesehen. Das waren keine Triaden. Diese Leute waren für solche Einsätze jahrelang ausgebildet. Dass sie Lims Kameras nicht entdeckt hatten, war reiner Zufall und der Tatsache geschuldet, dass Lim Tok eine ganz ähnliche Ausbildung genossen hatte. Lim und Li machten sich schweigend daran, die Wanzen zu entschärfen. Anschließend scannten sie das Boot mit Wanzendetektoren noch einmal von vorn nach achtern und von der Mastspitze bis in die Bilge. Als sie damit fertig waren, holten sie einen Jammer aus dem Bauch der Dschunke und installierten ihn am Hauptmast. Viel mehr konnten sie nicht tun.

Lamma, Hong Kong

Sie setzten sich an Deck. Lim drehte den CD-Player auf. „Was hältst du davon?“, fragte Lim Li. „Ich weiß nicht“, antwortete der. „Ich will die Triaden nicht unterschätzen. Was denen an Raffinesse fehlt, machen die mit Brutalität wieder wett, aber der zweite Spieler auf dem Brett macht mir im Moment ein bisschen mehr Sorgen. Ich glaube nicht, dass die von irgendeiner Bruderschaft entsendet wurden. Weder von einer guten, noch von einer bösen. Das stinkt 1.000 Meilen gegen den Wind nach Geheimdienst.“
„Sehe ich auch so“, sagte Lim. „Und wenn du mich fragst, hatten die die gleichen Ausbilder wie ich auch. Das waren Briten. Jede Wette. Nur will mir nicht in den Kopf, was der MI6 hier will. Was haben die mit unserem Problem zu tun?“
„Na ja“, sagte Li CiWen, „so abwegig ist das gar nicht. Du weißt ja, dass die gute alte Jardine, Matheson & Co und der britische Geheimdienst (30), mithilfe von Chang Hsiao-Lin die Red-Gang-Bruderschaft in der jungen Republik betrieben hat. Das ist etwas, was die Briten erfolgreich aus ihrem kollektiven Gedächtnis getilgt haben.“ Wie manches Andere, fügte er in Gedanken unversöhnlich hinzu. „Möglicherweise haben wir uns täuschen lassen und die sind immer noch im Geschäft?“
„Quatsch!“, sagte Lim Tok sanft, „du siehst Gespenster. Den Briten fehlt heute schlicht die Kohle, um nochmal die Sau rauszulassen. Das Empire haben die Amis billig aus der Konkursmasse gekauft. Nee, da muss es eine einfachere Erklärung geben. Ich kann mir vorstellen, dass die genau wie Beijing, und weiß Buddha wer noch, auf die ungewöhnliche Aktivität aufmerksam wurden. London ist definitiv ein Hot Spot der Drei Harmonien. Ich glaube, meine ehemaligen Kameraden wollen nur wissen, was da gerade im Busch ist und ob das Auswirkungen auf ihre Territorien hat. Wir wissen ja immerhin, dass das Boshanlu in Kent aufgetaucht ist. Vielleicht im Zusammenhang mit einer Mafia-Ermittlung. Wäre ich der MI6, würde ich mich auch dafür interessieren. Aber egal, wir raten eh nur rum. Wir sollten uns nicht vom Ziel abbringen lassen. Ich schätze, der neue Mitspieler ist nicht direkt ein Feind, so wie die Triaden, aber auf jeden Fall jemand, der ebenfalls nicht alles wissen muss. Ich habe das Gefühl, dass wir noch weniger Zeit haben, als ursprünglich gedacht.“

Lamma, Hong Kong

Lim Tok dachte einen Augenblick nach und fuhr dann fort: „Wir müssen davon ausgehen, dass das Boot beobachtet wird. Zumindest bei unseren Geheimdienstfreunden vermute ich, dass die auch richtig gut mit Infrarotdetektoren und Nachtsichtgeräten umgehen können. Unser einziger Vorteil ist vielleicht – aber nur vielleicht – das heute Silvester ist. Das wird wenigstens bei den Triaden die Aufmerksamkeit einschränken. Mein Boot hat einen Taucherausstieg. Zwei Tauchgeräte habe ich ebenfalls an Bord. Für das unbeobachtete Runterkommen ist gesorgt. Allerdings müssen wir uns um unsere Vertretung kümmern. Wir brauchen zwei Leute, die uns ähnlich sehen und hier heute Nacht ins neue Jahr hinein feiern. Angesichts der vielen Häuser und Boote, haben wir fast keine Chance herauszufinden, von wo aus wir observiert werden. Das heißt, wir müssen eine Weile schwimmen. Ich denke, wenn wir an Ap Lei Pai an Land gehen beziehungsweise in ein Boot umsteigen, sollten wir sicher sein. Ich habe noch zwei kleine DPVs (31) aus Militärbeständen, die eine Navigationshilfe für einen Nachttauchgang haben. Deren Batterien werden bis Ap Lei Pai durchhalten. Mit dem Boot fahren wir dann weiter nach Lamma und versuchen, auf der Insel unbemerkt einen Beobachtungsposten zu beziehen. Wenn wir Recht haben mit der Annahme, dass das der Geheimdienst ist, der uns da beobachtet, dann droht uns von denen keine Gefahr. Falls die unsere Flucht bemerken, ist die Aktion immer noch nicht gefährdet. Am besten wäre, wir entkommen denen unbemerkt und die wissen nichts vom Treffen auf Lamma, … aber daran wage ich, nach allem, was passiert ist, nicht mehr glauben. Als ich den Van heute bei meiner Mutter gesehen habe, musste ich ein paar Vorkehrungen treffen. Ich könnte mich ja selber beglückwünschen dafür. … Wird Zeit, mal wieder die gute alte Kurzwelle anzuwerfen.“
„Was meinst du damit?“, fragte Li CiWen.
Lim Tok antwortete: „Ich habe mit ein paar Freunden einen Code vereinbart. Wenn der über eine alte Kurzwelle auf einer vereinbarten Frequenz abgeschickt wird, kommen ein paar Leute unbemerkt durch den Einstieg an Bord und klären gegebenenfalls die Situation.“

Lamma, Hong Kong

Das alte Kurzwellengerät stand auf der Brücke in einem abgetrennten Areal. Lim Tok sendete die vereinbarte Nachricht über die Antenne am höchsten Punkt des Hauptmastes. Etwas vom Signal würde trotz des Jammers entkommen. Während Lim Tok am Taucherausstieg Wache hielt, schmückte Li CiWen das Boot mit Lichtgirlanden, Laternen, Bannern und was man so braucht für das bevorstehende Fest. Lim Tok hatte sogar ein großes Feuerwerk gekauft, dass man zentral abbrennen konnte. Rings um den Decksaufbau brachte er eine Persenning mit zerkratzen Plastikfenstern an. Auf die Fenster klebte er mit Reiskleber die roten Scherenschnitte, die Lim ihm gegeben hatte. Dann schleppte er Bier, Schnaps, Chips und natürlich den Fernseher nach oben. Die Party konnte steigen. Nach einer Weile kam Lim Tok wieder an Deck.

Lamma, Hong Kong

„Alles okay!“, sagte er, „kurz vor der Dämmerung kommt ein Walla Walla mit den Partygästen. Unsere Doubles kommen unten an. Wenn es dunkel ist, werden wir uns vom Acker machen. Ein Boot wartet in einer kleinen Bucht auf der Ozeanseite kurz hinter dem Mount Johnston.
Halb Sieben kamen die Gäste. Darunter seine Mutter, Lim Toks Freundin Pipi und weitere Leute, die Li CiWen nicht kannte. Lim hatte wirklich ein ausgezeichnetes Netzwerk. Chinesen zum Frühlingsfest aus dem geplanten Ablauf zu reißen, war schon eine logistische Meisterleistung. Eine Stunde später tauschten Li und Lim die Plätze mit ihren Doubles. Pipi und eine Maskenbildnerin hatten phantastische Arbeit geleistet. Zwar bezweifelten sie, dass man von der Ferne Unterschiede zwischen den Gästen ausmachen könnte, aber es war denkbar, dass sie ein Walla Walla schickten, mit Leuten, die mal so guten Tag und Xing Nian Kuai Le (32) sagen wollten. Selbst dann würden sie ihre Tarnung aufrechterhalten können, da waren Li und Lim jetzt sicher. Die Doubles zogen sich die Sachen von ihnen an und gingen an Deck.
„Weißt du“, sagte Li CiWen, „ich hätte nicht gedacht, dass ich solchen Kram nochmal machen muss. Schießereien, Nachttauchen, Anschleichen, Observation …, ich fühl mich schon ein bisschen zu alt dafür.“
„Du meinst, du bist nicht fit?“, fragte Lim Tok, während er sich den Neoprenanzug überzog.
Li antwortete: „Nee, das meine ich nicht. Da sorgt die chinesische Polizei für, dass mein Körper nicht verfällt. Was ich meine ist, das ist irgendwie unwürdig, in dem Alter durch den Schlamm zu robben, sich das Gesicht anzumalen, wie ein blinder Grottenolm durch einen verdreckten Kanal zu tauchen … Du weißt schon.“
Lim Tok grinste breit: „Also mir macht‘s Spaß!“
„Wenn du das nicht hättest, würdest du in einem Tarnanzug mit Kindern auf einer Paintball-Anlage rumlaufen – oder?“, stellte Li eine rhetorische Frage.
„Logisch!“, sagte Lim Tok schlicht. Sie hatten ihr Equipment verstaut und schleusten einer nach dem anderen aus.

Lamma, Hong Kong

Das DPV hatte eine rudimentäre Navigationshilfe mit einer roten, grünen und blauen LED: War man auf Kurs, blinkte die blaue LED, zu weit Steuerbord, die grüne, und zu weit Backbord die rote. Der Nachteil war, dass man den Kurs zuvor mit Hilfe einer Seekarte eingeben musste. GPS funktionierte unter Wasser nicht. Man war gezwungen, stumpf dem programmierten Kurs zu folgen. Allzu große Abweichungen brachten das Gerät am Ende durcheinander. Im Zweifelsfall musste man aufsteigen und per GPS die Position neu kalibrieren. Das wollten sie auf jeden Fall vermeiden. Schulter an Schulter ließen sie sich langsam den Kanal hinab nach Osten und dann nach Süden ziehen. Dank der Festbeleuchtung der unzähligen Dschunken und Yachten, erkannten sie vage die bootfreie Fahrrinne.

Lamma, Hong Kong

Nach einer Weile passierten sie die beiden Molen, die zum Taifunschutz errichtet worden waren. 20 Minuten später kletterten sie an Bord einer kleinen Motoryacht. Der Weg nach Lamma dauerte mit dem kleinen E-Motor 40 Minuten. Am Strand würden in dieser Nacht viele Villager und Touristen feiern. Sie mussten einen verdeckten Liegeplatz im nördlichen Teil der Bay finden. Je weiter weg vom Strand und dem Dorf, umso besser. Das war der kniffligste Teil des Planes. Denn je weiter weg sie anlandeten, desto länger mussten sie marschieren und riskierten so, dass sie von Posten der Triaden bemerkt würden.

Sie fanden eine Kamikazehöhle auf Meeresniveau am äußersten westlichen Ende der Bucht. Laut GPS brauchten sie von ihrem Liegeplatz bis zum geplanten Beobachtungsposten am Cui-Mo-Kloster zwei Stunden Fußweg. Li und Lim zogen das Boot in die Höhle. Sie tarnten den Eingang so perfekt, dass er weder von Land noch von See zu finden war, selbst wenn man direkt davorstand. „Gelernt ist gelernt!“, sagte Lim Tok, als sie damit fertig waren. Sie machten sich auf den Weg. Es gab zwar einen Pfad zum Kloster, aber der wurde mit Sicherheit überwacht. Also mussten sie sich abseits der Wege und einzig vom GPS gelenkt eine mögliche Trasse suchen. Mittels Luftbilder hatten sie vorher ihre ungefähre Route festgelegt. Sie riskierten nicht, Licht anzuschalten. Zum Glück erwies sich der Himmel als hell genug. Unterwegs hörten sie das Grollen des Feuerwerks. Das Jahr des Affen hatte begonnen. Auf Lims Boot würde die Party recht bald zu Ende sein und die Gäste gingen in ihre Kammern. Zum Mittag würden sich alle im Hibiskus treffen und dort sollte der Identitätsrücktausch mit ihren Doubles erfolgen – wenn alles so klappte wie gedacht.

Lamma, Hong Kong

Der Weg erwies sich als mühsamer, als sie angenommen hatten. Zwar konnten sie gelegentlich Bauernpfade nutzen, aber dennoch mussten sie immer wieder längere Strecken durch dichtes Gestrüpp zurücklegen. Zum Glück waren sie vor Schlangenbissen ausreichend geschützt, aber die dichte Kleidung hatte den Nachteil, dass sie elendig schwitzten. Zu allem Überfluss hatten sie nicht mal die Möglichkeit, ordentlich laut zu fluchen. Lim Tok anfangs ins Gesicht geschriebene kindliche Freude am Abenteuer war einem vor Anstrengung verzerrten Gesicht gewichen. Viel länger würden sie die Tortur nicht durchhalten. Da war der Nieselregen, der in den frühen Morgenstunden einsetzte schon fast eine Wohltat. Leider verwandelte sich der lehmige Urwaldboden in eine unberechenbare Oberfläche. Mit dem ganzen Gepäck hinzufallen, war die eine Sache. Dies geräuschlos zu tun, eine ganz andere. Und dann musste man auch wieder aufstehen. Plötzlich hielt Lim Tok inne und machte Li CiWen ein Zeichen. Keine hundert Meter entfernt stand ein Posten. Er rauchte. Fast aus den Augenwinkeln heraus hatte Lim die Glut wahrgenommen. Das hatte ihnen womöglich das Leben gerettet. Soll noch einer sagen, dass Rauchen schädlich ist. Sie zogen sich langsam zurück. Der Posten stand laut Karte weitab von einem Pfad, welcher zum Kloster führte. Offensichtlich mussten sie das Zielgebiet noch weiträumiger umgehen, als ursprünglich geplant. Lim ging davon aus, dass die Rückseite weniger bewacht wurde, da es auf dieser Seite weder Straßen noch Bauernpfade gab. Mit etwas Glück waren die Wachen auf der Rückseite nur innerhalb des Klosters aufgestellt. Es dämmerte bereits. Die dichte Bewölkung und der feine Regen kamen ihnen jetzt zugute.

Lamma, Hong Kong

Nach einer weiteren kräftezehrenden Stunde hatten sie endlich einen Posten auf der Rückseite des Klosters bezogen. Die Sicht auf den Drum-Tower war ideal. Wenn sie die Reflexionen der Objektive nicht verrieten, konnte sie bei ihrer Tarnung keiner entdecken. Der Regen war stärker geworden. Sie lagen in einer veritablen Pfütze. Trotz ihrer Spezialkleidung würden sie das nicht ewig durchhalten. Die Clanchefs taten ihnen den Gefallen. Um acht Uhr kamen sie mit ihren Eskorten ins Kloster. Nach guter chinesischer Sitte schlug jeder Einzelne von ihnen die Glocke an. Fein säuberlich sortiert nach der Hierarchie. Lim und Li konnten ihr Glück kaum fassen. Jeder Schlag eine Serie von Fotos. So mancher investigative, aber leider leichtsinnige Journalist, hatte sein Leben lassen müssen, bei dem Versuch, aktuelle Bilder von Triadenbossen zu machen. Sie hatten einen Schatz gehoben. Mit den Bildern würden sich noch auf Jahre hinaus Polizeibehörden auf der ganzen Welt befassen. Das Treffen dauerte nur eine Stunde, dann fuhren die Clanchefs leicht zeitversetzt wieder ab. Li und Lim warteten zwei weitere Stunden im Schlamm, bis sie sich sicher genug fühlten. Sie wuschen sich Gesicht und Hände, zogen sich um und machten sich, diesmal auf dem Pfad, auf den Weg zurück zum Boot. Wer sie jetzt sah, würde sie für harmlose Vogelfreunde halten, die das Neujahr für ihre ganz eigene Art der Meditation genutzt hatten. Die Filmpatronen hatten sie vorsorglich so am Körper versteckt, dass sie durch Abtasten nicht gefunden werden konnten. Lim brannte darauf, sie im Fotolabor auf der Dschunke zu entwickeln. Eine Stunde später saßen sie in der Yacht und am frühen Nachmittag betraten sie das Hibiskus durch einen Hintereingang.

Lamma, Hong Kong

Trotz Erschöpfung und Müdigkeit kam am Ende doch so etwas wie Frühlingsfest-Stimmung auf. So wie Li in seiner Kammer auf dem Boot das Gefühl hatte, zu Hause angekommen zu sein, so fühlte er sich plötzlich wie von seiner Familie umringt. Es war ein gutes Gefühl.


30 „Die Stadt Schanghai wurde vor allem von zwei Triaden beherrscht, der Roten Bande, Partner der britischen Firma Jardine, Matheson & Co und des britischen Geheimdienstes, geführt von Chang Hsiao-lin, und der Grünen Bande, die mit den Franzosen im Rauschgift- und Geheimdienstgeschäft zusammenarbeitete und von „Pockennarbe“ Huang geführt wurde. Daneben existierten noch die Tong und die Liga des Himmels und der Erde.“ https://de.wikipedia.org/wiki/Triade_(Kriminalistik),

31 Ein Tauchscooter (englisch Diver Propulsion Vehicle, DPV) ist ein Elektro-Antrieb für einzelne Personen im bzw. unter Wasser.

32 Frohes neues Jahr!

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